Eines unter vielen Schildern am "Klagezaun" des amputierten Stuttgarter Bahnhofs |
"Behörde kassiert S 21-Baustopp".
Das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) habe den Baustopp für den umstrittenen Tiefbahnhof "Stuttgart 21" (S 21) trotz der gegenteiligen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden Württemberg in Mannheim für hinfällig erklärt. Ungeachtet der anderslautenden Vorgabe des VGH dürfe die Deutsche Bahn den Bau der Grundwasserleitungen am Südflügel des Hauptbahnhofs fortsetzen.
Bisher bin ich immer davon ausgegangen, dass Entscheidungen und Urteile von Gerichten erst einmal für jeden Bürger und für jede Institution in diesem Land bindend sind - auch für Ämter und Behörden! Und sogar auch für bundeseigene Konzerne. Offenbar scheine ich mich diesbezüglich gewaltig getäuscht zu haben. Anscheinend haben Bundesbehörden unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, die Entscheidungen von Gerichten auszuhebeln.
Der Badischen Zeitung vom 31.10.2011 zufolge begründet das EBA seine Aushebelung des Gerichtsentscheids mit "öffentlichem Interesse". Um weitere Verzögerungen zu vermeiden, sei die sofortige Wiederaufnahme der Bauarbeiten am Grundwassermanagement (GWM) angeordnet worden.
- Der Zeitung zufolge hat sich das EBA aber wohl nicht zur Preisgabe weiterer Details oder gar zu einer Begründung des "öffentliche Interesses" hinreißen lassen. Worin ihr Interesse am eigenmächtigen Vorgehen des EBA denn nun eigentlich besteht, das geht die Öffentlichkeit nach Ansicht der Bundesbehörde offenbar gar nichts an.
Die "Stuttgarter Nachrichten" berichteten am 29.10.2011, dass die anerkannten Umweltschutzverbände eigentlich zu früheren Änderungen in den Bauplänen der Bahn hätten gehört werden müssen. Da das damals aber nicht geshehen sei, habe die Umweltschutzorganisation BUND geklagt. Das Eisenbahnjournal "Zughalt" schrieb am 31.10.2011, der VGH habe einem entsprechend begründeten Eilantrag des BUND für einen Baustopp in Sachen GWM und Schlossgarten (Fällungs- und Grabungsarbeiten, Verlegung von Rohren) am 05.10.2011 stattgegeben.
Hauptkritikpunkt sei die Nichtbeachtung der Naturschutzverfahren im vereinfachten Genehmigungsverfahren in der 5. Planänderung des Planfeststellungsabschnittes 1.1 sowie die Übergehung des BUND in dieser Angelegenheit gewesen. Obwohl ihm dies EU-rechtlich seit einiger Zeit zusteht und zudem gravierende natur- und artenschutzrechtliche Auswirkungen zu erwarten seien, sei der BUND nicht beteiligt worden. Das GWM-Rohrsystem sei unerlässlich für das spätere Ausheben der Baugrube für den geplanten unterirdischen Durchgangsbahnhof.
Das Gericht habe seine Entscheidung als "unanfechtbar" ausgewiesen. Der Schwäbischen Zeitung vom 29.10.2011 zufolge hatte das Gericht der Bahn eine Frist bis Ende Oktober für eine Stellungnahme eingeräumt und angekündig, dass danach mündlich verhandelt werden solle. Zur Streitsache selber sei ein Termin für den 15.12.2011 anberaumt worden. Der Eilbeschluss sei keine Vorentscheidung. Die Klage des BUND habe aber aufschiebende Wirkung. Weitere Hintergrundinformationen dazu sind auf einer Internetseite der S21-Gegner zu finden.
Eine üble Taktik
Wie die Schwäbische Zeitung in ihrem Artikel vom 29.10.2011 weiter berichtet, wittert der BUND dahinter eine üble Taktik. Die Organisation bezeichne das Vorgehen der Bahn als "unsäglich". Das EBA habe seine Entscheidung, das Urteil des VGH zu ignorieren, bewusst am Freitag bekannt gegeben. So werde den Umweltschützern die Möglichkeit für eine schnelle Reaktion genommen. Dienstag sei in Baden-Württemberg ein Feiertag, der Montag also ein Brückentag. Um Zeit zu gewinnen und Fakten schaffen zu können, habe die Bahn den Termin ganz gezielt gewählt. Mit dieser Salamitaktik wolle sie der Bevölkerung signalisieren, dass es keinen Weg mehr zurück gibt.
Die Schwäbische Zeitung zitiert Frau Dahlbender (BUND Baden-Württemberg, Landesvorsitzende) mit den Worten: "Der VGH hat das Vorgehen der Bahn ganz dezidiert gerügt. Und dennoch setzt sich das EBA jetzt darüber hinweg. Dabei sind bei den Arbeiten eindeutig keine Allgemeinwohlinteressen berührt, die die Wiederaufnahme ohne endgültige Entscheidung rechtfertigen würden." Die Umweltschutzorganisation hat gestern beim Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Mannheim einen Antrag auf Wiederherstellung des Baustopps an der Grundwassermanagement (GWM)-Baustelle von Stuttgart 21 (S 21) gestellt. Der Einschätzung des BUND zufolge werde sich das Gericht jedoch nicht vor Mittwoch damit beschäftigen.
- Besonders delikat finde ich in diesem Zusammenhang, dass das Eisenbahn-Bundesamt (EBA), das sich über diese Gerichtsentscheidung hinwegsetzt - ohne das es dafür (laut Frau Dahlberger) eine Rechtfertigung gibt - die oberste Aufsichtsbehörde des bundeseigenen Konzerns "Deutsche Bahn" ist, der sein Projekt "Stuttgart 21" entgegen des massiven Widerstands aus der Stuttgarter Bevölkerung um jeden Preis durchboxen will.
Unter anderem aufgrund solcher Kungeleien hat bereits die schwarz-gelbe Landesregierung unter Herrn Mappus Schiffbruch erlitten. Strebt die wespenfarbene Bundesregierung unter Zuhilfenahme ihres Bundesamtes jetzt das gleiche Ziel an?
Salamitaktik?
Nee: Bahnanenrepublik!
(Quellen: SWR vom 31.10.2011, Eisenbahnjournal "Zughalt" vom 31.10.2011, Bremerhavener Sonntagsjournal vom 29.10.2011, Stuttgarter Nachrichten vom 29.10.2011, Stern vom 29.10.2011, Schwäbische Zeitung vom 29.10.2011 Bericht 1 und Bericht 2, Focus vom 29.10.2011, "Bei Abriss Aufstand" vom 06.10.2011)
3 Kommentare:
Was die Missachtung von richterlicher Rechtsprechung angeht, geht Frau Merkel doch mit blühendem Beispiel voran....
Gelernt hab ich allerdings auch was anderes an der Uni in meinen 13 Semestern Jura :-)
Hallo Jürgen,
auf deutsche Behörden ist immer verlass. Dieses sogenannte Eisenbahn-Bundesamt setzt sich einfach über eine Gerichtsentscheidung hinweg. Da haben irgendwelche verbeamtete Juristen treuen Gehorsam geleistet. Ein Gespräch des "staatseigenen" Bahnchefs Herrn Grube mit dem Verkehrsminister Herrn Ramsauer und dieser gibt seinem Behördenleiter von diesem Eisenbahn-Bundesamt, dem Präsidenten Herrn Hörster, eine dienstliche Anweisung. Schon ist nix mehr mit einem Baustopp von Stuttgart 21. Diese Vorgehensweise ist typisch in deutschen Behörden. In der deutschen Finanzverwaltung werden auch nicht alle Entscheidungen der Finanzgerichte der Länder oder des Bundesfinanzhofes automatisch geltenes Recht. Die Verwaltung sagt dann einfach: "Das ist ein Einzelfall". Nur wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet, müssen die Gesetze geändert werden. Ich erinnere nur an die gekürzte Entfernungspauschale oder die Streichung des Arbeitszimmer für Lehrer usw.
Tschüss,
Holger
Stuttgart 21 wird gebaut, egal was kommt. Leider wurde schon so viel geld investiert, dass es kein Zurück mehr gibt. Da heißt es wachsam sein bei kommenden Vorhaben.
Ich erinnere nur an die DASA, die in Finkenwerder die Rollbahn verlängern wollte. Das Mühlenberger Loch wurde zugeschüttet, Obstbauern in Neuenfelde zum Teil enteignet und die Rollbahn gebaut. Heute wird sie meines Wissens nicht mehr benötigt. Aber die Natur ist zerstört
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