Sonntag, 19. März 2017

Vor Abschiebungen nach Afghanistan ...

... wird dringend gewarnt

Die "Zeit" berichtet in einem Artikel auf ihrer Internetseite vom 22.02.2017 über das Schicksal des dreiundzwanzigjährigen Atiqullah Akbari. Herr Akbari sei bei einem Selbstmordanschlag vor dem obersten Gericht in Kabul, bei dem Anfang Februer 20 Menschen getötet wurden, verletzt worden.

Knapp zwei Wochen zuvor war er einer der sechzig Afghanen gewesen, die mit einem Flugzeug von München nach Kabul abgeschoben worden waren. Herr Akbari, der aus Herat stammt, hatte das Glück, das Attentat in Kabul zu überleben. Herat und Kabul - nach Einschätzung der Bundesregierung ist die Sicherheitslage in den beiden Städten und und ihren Umgebungen "konstant ausreichend sicher" genug, um nach Deutschland geflüchtete Afghanen bedenkenlos dorthin abschieben zu können.

Ein Staat gilt als sicher, wenn Menschen dort politisch nicht verfolgt werden. Sie dürfen weder unmenschlich behandelt noch erniedrigend bestraft werden. Ich habe keinen Hinweis darauf finden können, dass - wie es in letzter Zeit immer wieder heißt - Afghanistan als sogenanntes "Sicheres Herkunftsland" eingestuft wurde. Trotzdem häufen sich die Abschiebungen von Menschen aus Afghanistan, die aus ihrer Heimat flohen, um in Deutschland Schutz von Todesdrohungen, Verfolgung und Gewalt zu suchen.

Im § 29a, Asylgesetz (AsylG):
(1) Der Asylantrag eines Ausländers aus einem Staat im Sinne des Artikels 16a Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes (sicherer Herkunftsstaat) ist als offensichtlich unbegründet abzulehnen, ..
(2) Sichere Herkunftsstaaten sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die in Anlage II bezeichneten Staaten. ..
In der Anlage II zu § 29a des Asylgesetzes sind die Balkanstaaten sowie die afrikanischen Staaten Ghana und Senegal verzeichnet (Gesetze im Internet, Stand: Zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 2 G v. 04.11.2016 - abgerufen am 18.03.2017). Afghanistan ist im Asylgesetz also - bisher zumindest - nicht als "sicherer Herkunfsstaat" gelistet.


Aus den Augen, aus dem Sinn

Um afghanische Flüchtlinge trotzdem irgendwie möglichst schnell wieder loswerden zu können, hat die Bundesregierung das Land in Regionen mit "hoher Bedrohungslage" und "konstant ausreichend sichere" Regionen aufgeteilt. In einigen Medien wurde dazu eine entsprechende Landkarte des "Bundesamts für Migration und Flüchtlinge" (BAMF) veröffentlicht. Es gibt auf der Karte viele weitere "weiße" Regionen die nicht explizit erwähnt werden. Deren Sicherheitslage muss dann wohl irgendwo zwischen "konstant ausreichend sicher" und "hohe Bedrohungslage" angesiedelt sein - oder es ist schlicht nicht bekannt, wie es dort um die Sicherheit der Menschen bestellt ist.

Menschen, die in einer Region Afghanistans mit "hoher Bedrohungslage" leben und dort verfolgt und mit dem Tode bedroht werden oder Schutz vor der Gewalt in ihrer Heimat suchen, sollen innerhalb des Landes in eine der als "konstant ausreichend sicher" deklarierten Regionen umziehen. Nach Auffassung der Bundesregierung sind Asylanträge von Menschen aus Afghanistan in Deutschland somit grundsätzlich erst einmal offensichtlich unbegründet.

Von denjenigen, die - wie Herr Akbari - trotzdem die Strapazen und Gefahren einer Flucht nach Deutschland auf sich genommen haben, sollen möglichst viele möglichst bald zurück nach Afghanistan geschickt werden. Legitimiert wird das mit der Behauptung, die Menschen würden ja in eine der als "konstant ausreichend sicher" eingestuften Regionen Afghanistans abgeschoben. Ob die Abgeschobenen - ebenso wie Herr Akbari - später Opfer eines Terroranschlags oder einer Entführung werden, oder mit viel Glück vielleicht körperlich unversehrt davonkommen interessiert die dafür Verantwortlichen hierzulande nicht. - Aus den Augen, aus dem Sinn!

Herr de de Maizière (CDU, Bundesinnenminister) meint diesbezüglich, die Anschläge der Taliban würden sich gegen staatliche Institutionen und ihre Vertreter, nicht aber gegen die normale Bevölkerung richten, auch wenn diese dabei gelegentlich in Mitleidenschaft gezogen werde. Die Bürger seien zwar Opfer, aber nicht Ziel der Islamisten. Wie die "Zeit" in einem Artikel von 22.02.2017 auf ihrer Internetseite schreibt, hört sich das aus dem Munde Herrn de de Maizières so an (Zitat): "Das ist ein großer Unterschied."
Ich denke, Herr Akbari und andere Opfer der Taliban werden das mit Sicherheit anders sehen.

Welchen Grad an Arroganz braucht es wohl, um Menschen, die uns um Schutz gebeten haben, mit derart fadenscheinigen "Legitimationen" zurückzuweisen und sie mit der Abschiebung kaltblütig der Gefahr für Leib und Leben auszusetzen?


Mit zweierlei Maß

In einem früheren Artikel auf ihrer Internetseite vom 17.11.2016 schreibt die "Zeit", das Bundesinnenministerium habe die Frage, ob sich die Sicherheitslage in Afghanistan verbessert oder verschlechtert habe wie folgt beantwortet (Zitat):
.. "Die Sicherheitslage bleibt auch über 2015 hinaus volatil und weist regionale Unterschiede auf. Eine Verschlechterung der Sicherheitslage im gesamten Land kann daher nicht bestätigt werden." Die Bedrohung sei für Regierungsangehörige und für westliche Besucher am höchsten. "Für die zivile Bevölkerung in den Gebieten unter militantem Einfluss ist die Bedrohung dagegen geringer." Begründung: Die Taliban hätten "wiederholt glaubhaft" versichert, "zivile Opfer zu vermeiden und zivile Infrastruktur zu schonen". ..
  • Terroristen, welche die Sicherheit in Deutschland bedrohen, können wohl eher nicht damit rechnen, dass man ihnen derart blauäugig Glauben schenken wird.

Überhaupt scheint es für das Ministerium Herrn de Maizières bezüglich der Beurteilung der Sicherheit für die Zivilbevölkerung deutliche Unterschiede zwischen Deutschland und dem Rest der Welt zu geben - so auch bei der Berechnung einer theoretischen "Gefahrendichte", die als harmlos bezeichnet wird. Darüber berichtet die "Zeit" in ihrem Artikel vom 17.11.2016.

In einem Textbaustein des BAMF mit dem Titel: "Keine Bedrohung im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes in Afghanistan" werde anhand einer Wahrscheinlichkeitsrechnung dargestellt, dass die Sterbewahrscheinlichkeit in Afghanistan bei 27 Millionen Einwohnern und einer geschätzten Opferzahl von 20.000 Menschen bei 0,074 Prozent liegt. Das sei weit entfernt von einer "beachtlichen Wahrscheinlichkeit". Es gebe daher keinen Grund, das Land als Bürgerkriegsflüchtling verlassen zu müssen.


EU-Richtlinien zum Asylrecht fordern, dass niemand zurückgeschickt werden darf, wenn ihm eine tatsächliche Gefahr droht. Die "Zeit" schreibt in ihrem Artikel vom 17.11.2016, um beurteilen zu können, ab wann eine "tatsächliche Gefahr" vorliegt, hätten deutsche Richter das Konzept der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" entwickelt. das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht hätten den nach wie vor schwammigen Begriff in älteren Urteilen mit "überwiegende Wahrscheinlichkeit" übersetzt, womit eine statistische Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent gemeint sei.

In neueren Urteilen werde das nicht mehr als absolute Grenze verstanden. Aber ähnliche Berechnungen, wie die des BAMF, sehen Gerichte weiterhin als ausreichend an, um Asylanträge abzulehnen. So befand das Bundesverwaltungsgericht 2011, ein Verhältnis zwischen Opfern und Bewohnern von 1 zu 800, beziehungsweise eine Sterbewahrscheinlichkeit von 0,125 Prozent sei kein Problem. Der Kläger sei "keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt".


Um zu verdeutlichen, welche Brisanz hinter diesen schwer einschätzbaren statistischen Wahrscheinlichkeiten steckt, vergleicht die "Zeit" die für Afghanistan berechnete "Gefahrendichte" mit der des Zweiten Weltkriegs in Deutschland (Zitat):
.. In den sechs Jahren von 1939 bis 1945 starben in Deutschland schätzungsweise 1,17 Millionen Zivilisten oder 195.000 pro Jahr. Bei einer Bevölkerung von damals 65,3 Millionen ergibt sich eine jährliche Sterbewahrscheinlichkeit für jeden Zivilisten von 0,3 Prozent. Der verheerende Zweite Weltkrieg war hierzulande also nur viermal tödlicher als der Bürgerkrieg in Afghanistan, den das BAMF für harmlos hält. ..

Bei dieser Betrachtung darf nicht vergessen werden, dass der Zweite Weltkrieg für Deutschland nach sechs Jahren beendet war. - Im von Kriegen geschundenen Afghanistan ist dagegen mittelfristig kaum mit einem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen und der Terroranschläge zu rechnen.


"Volatil" (Neusprech)

In einem Schreiben Herrn de Maizières an die Innenminister der Länder heißt es, die Lage sei "volatil und regional unterschiedlich". Die Sicherheit in Kabul, Herat, Bamiyan und Panjshir sei "ausreichend kontrollierbar".

"Volatil" - Das hört sich doch eigentlich ganz nett an: "Volatil" - hat doch einen hübschen Klang, oder? Ich muss allerdings zugeben, dass mir das - wie ich inzwischen gelernt habe - auf das lateinische "volatilis" zurückzuführende Adjektiv bisher unbekannt war. Wikipedia übersetzt "volatilis" mit "veränderlich", "beweglich", "flüchtig" oder "dampfförmig".

Aha: Wenn Herr de Maizière sagt, die Lage sei "volatil und regional unterschiedlich" (Zeit Online vom 22.02.2017), dann meint er mit "volatil" wohl: Die Lage ist "veränderlich" (die drei anderen Übersetzungen ergeben im Kontext "Sicherheitslage" jedenfalls keinen Sinn). Auf den Punkt gebracht heißt das:
Die Sicherheitslage kann sich jederzeit ändern!

Zum Beispiel könnte mit einem Mal direkt neben einem eine Bombe explodieren, die ein Selbstmordattentäter kurz zuvor noch um seinen nun nicht mehr vorhandenen Leib getragen hatte. Von einem Moment zum Anderen hätte sich die örtliche Sicherheitslage für die Opfer dann von "konstant ausreichend sicher" zu "hohe Bedrohungslage" mit Todesfolge verändert. Die Wahrscheinlichkeit, dass man dabei sein Leben verliert, liegt in diesem speziellen Fall nämlich bei 100 Prozent. Wer sich zufällig etwas weiter entfernt vom Zentrum der Explosion aufgehalten hatte, ist vielleicht - mehr oder weniger schwer verletzt - mit dem Leben davongekommen ...

Wenn Herr de Maizière und die Sprecher seines Ministeriums sagen, die Lage sei "volatil und regional unterschiedlich", dann hört sich das für jemanden, der mit dem Begriff "volatil" nichts anzufangen weiß, zunächst so an, als sei die Lage einfach nur "regional unterschiedlich". Herr de Maizière suggeriert mit seiner Wortwahl: Wem sein Leben lieb ist, der müsse sich einfach nur in der richtigen Region Afghanistans aufhalten.

Allerdings muss man dem Herrn Bundesminster zugute halten, dass er ja nicht verschwiegen hat, dass auch das keine Garantie dafür bietet, nicht zum Opfer eines Attentats zu werden. Nur hat er das so geschickt verschleiert ausgedrückt, dass es wohl kaum jemand verstanden haben wird.
  • "Volatil" - je länger ich so darüber nachdenke, desto mehr verblasst der hübsche Klang dieses Wortes ... - zumindest im Zusammenhang mit der Abschiebung afghanischer Flüchtlinge aus Deutschland.

Auch der aus dem französischen stammende Familienname "de Maizière" hat ja durchaus einen angenehmen Klang. - Im Zusammenhang mit dem eiskalten Kalkül des Herrn Bundesinnenminsters erzeugt er allerdings deutliche Misstöne, die nicht nur mir zuwider sind.


Vor Abschiebungen nach Afghanistan
wird dringend gewarnt


In der Bundesregierung ist man sich also der Tatsache bewusst, dass es für die Menschen in Afghanistan keinen Schutz vor Verfolgung, Terror, Gewalt und bewaffneten Auseinandersetzungen gibt. Das geht auch aus der Internetseite des Auswärtigen Amts zweifelsfrei hervor (Zitat, abgerufen am 18.03.2017):
Afghanistan: Reisewarnung
(Unverändert gültig seit: 11.11.2016)

Aktueller Hinweis

Am 10.11.2016 hat ein Anschlag auf das deutsche Generalkonsulat in Masar-e Scharif stattgefunden. Das Generalkonsulat ist daher vorübergehend nicht erreichbar.

Landesspezifische Sicherheitshinweise - Reisewarnung

Vor Reisen nach Afghanistan wird dringend gewarnt.

Wer dennoch reist, muss sich der Gefährdung durch terroristisch oder kriminell motivierte Gewaltakte bewusst sein. Auch bei von professionellen Reiseveranstaltern organisierte Einzel- oder Gruppenreisen besteht unverminderte Gefahr, Opfer einer Gewalttat zu werden. ..

In ganz Afghanistan besteht ein hohes Risiko, Opfer einer Entführung oder eines Gewaltverbrechens zu werden. Landesweit kann es zu Attentaten, Überfällen, Entführungen und anderen Gewaltverbrechen kommen. ..

Im Januar 2016 gab es in unmittelbarer Nähe des Flughafens Kabul eine heftige Detonation, bei der über 50 Zivilisten verletzt wurden. Im April 2016 wurden bei einem Anschlag gegen ein Regierungsgebäude in Kabul 80 Menschen getötet und über 340 teilweise schwer verletzt.

Nach dem Ende der internationalen militärischen Unterstützungsmission ISAF haben die afghanischen Sicherheitskräfte landesweit die Sicherheitsverantwortung übernommen, sehen sich jedoch einer starken Insurgenz gegenüber und haben die Lage nicht überall unter Kontrolle.

Allen Deutschen vor Ort wird zu größtmöglicher Vorsicht geraten. Von Überlandfahrten wird dringend abgeraten. Wo solche zwingend stattfinden müssen, sollten sie auch in vergleichsweise ruhigeren Landesteilen nur im Konvoi, nach Möglichkeit bewacht und mit professioneller Begleitung durchgeführt werden. Die Sicherheitslage auf der Strecke muss zeitnah zur Fahrt sorgfältig abgeklärt werden. Es wird davor gewarnt, an ungesicherten Orten zu übernachten.

Allgemeine Reiseinformationen

Vor Reisen nach Afghanistan wird dringend gewarnt.

Konsularische Unterstützung für Deutsche kann grundsätzlich nur in der Hauptstadt Kabul geleistet werden. Hilfe für Deutsche in Not wird durch das deutsche Generalkonsulat in Masar-e Scharif und die deutsche Botschaft in Kabul geleistet. Die Telefonnummern der Botschaft Kabul und des Generalkonsulats Masar-e Scharif (Anmerkung juwi: Das aufgrund des Anschlags vom 10.11.2016 derzeit nicht erreichbar ist) finden Sie unter "Deutsche Auslandsvertretungen".

1600 Menschen kamen im ersten Halbjahr 2016 bei Kämpfen am Boden, durch Selbstmordanschläge und improvisierte Sprengkörper ums Leben. 3565 Zivilisten wurden verletzt. Das UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) spricht von der höchsten Zahl ziviler Opfer seit 2009. Im Vergleich zu 2015 hätten die Vereinten Nationen im vergangenen Jahr einen Anstieg der bewaffneten Auseinandersetzungen um 22 Prozent festgestellt. Hunderttausende Menschen seien innerhalb des Landes auf der Flucht. Und selbst Mitarbeiter des Roten Kreuzes - die bislang unter einem besonderen Schutz standen - seien inzwischen in Afghanistan nicht mehr sicher.


Petition

In dieses Land sollen nun drei von zehn aus Afghanistan geflohene Schüler einer Schulklasse der Freien Waldorfschule Cottbus abgeschoben werden. Ihre deutschen Klassenkameraden wollen das nicht kampflos hinnehmen. Um ihre Mitschüler vor einem Schiksal, wie das des Herrn Akbari - oder Schlimmerem(!) - zu bewahren, haben sie deshalb unter anderem eine Petition initiiert und bitten um Unterstützung für ihre Petition. Sie schreiben (Zitat):
.. Unsere Mitschüler flohen nach Deutschland, weil irgendwann die Taliban in ihre afghanischen Dörfer kamen, Unterkunft und Essen von den Einwohnern forderten und schließlich auch die Söhne der Familien, um sie für sich zu rekrutieren. Wer sich widersetzte wurde mit Drohbriefen eingeschüchtert, auf brutalste Art und Weise misshandelt, mit unter bis hin zum Tod. Entführungen, tagelange Bombardierungen und die Unfähigkeit von Staat und Polizei geschützt zu werden ließen keine Möglichkeit zu bleiben.

Es kann nicht sein, dass für uns eine akute offizielle Reisewarnung besteht, aber unsere Mitschüler in dieses absolut unsichere Land abgeschoben werden. ..
 


Zum Weiterlesen:
  • Kiyaks Deutschstunde: Sichere Herkunftsländer:
    Urlaub nein, Abschiebung ja
    - Eine Kolumne von Mely Kiyak -

    Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hält Abschiebungen in manche Krisengebiete für zumutbar. Das Erfinden von sicheren Herkunftsländern ist politischer Sport geworden.
    (Zeit Online vom 23.11.2016)
  • rbb - Weltsichten
    Abgeschoben aus Deutschland - in den Krieg
    - ein Radiobericht von Jürgen Webermann -

    Bund und Länder wollen die Zahl der Abschiebungen nach Afghanistan erhöhen. Davon sind auch Menschen betroffen, die seit Jahren in Deutschland leben, integriert sind, einen Job haben, Steuern bezahlen. Wenig später sitzen sie mit leeren Händen in Kabul, einer Stadt, in der im vergangenen Jahr 300 Menschen durch Bomben um Leben kamen. ARD-Korrespondent Jürgen Webermann hat drei von ihnen getroffen.

    (rbb vom 26.02.2017)


(Quellen: rbb vom 26.02.2017, Die Zeit vom 22.02.2017, Die Zeit vom 23.11.2016, Die Zeit vom 17.11.2016, Auswärtiges Amt - Länderinformation Afghanistan, Asylgesetz [AsylG], Schüler der Oberstufe der Freien Waldorfschule Cottbus auf Change.org )

Samstag, 11. März 2017

Rückkehr - in ein Leben jenseits jeder Normalität

Atomkraft? Nein Danke!
Nach nur sechs Jahren erklärt die japanische Regierung die Evakuierung für mehr als 10.000 Familien jetzt für beendet. Sie sollen in ihre Dörfer zurückkehren, die - wie Oasen in einer lebensfeindlichen Wüste - in einer einer stark radioaktiv kontaminierten Umgebung liegen.

Irgendwie scheinen die dafür Verantwortlichen unter einer extremen Form von Realitätsverlust zu leiden. Die Dächer und Straßen wurden gewaschen, radioaktiv kontaminiertes Laub und Gras eingesammelt. Rund um die Häuser und auf einem 20 Meter breiten Streifen links und rechts der Straßen wurden die obersten, am stärksten belasteten Bodenschichten abgetragen. Auf diese Weise sind viele Millionen Kubikmeter Atommüll zusammen gekommen, der nun in Plastiksäcken verpackt auf lokalen Sammelplätzen lagert. Niemand weiß, wohin damit und niemand kann sagen, wie lange die Säcke dicht halten. Für das Problem mit dem verstrahlen Boden gibt es keine Lösung.
Es wurde nur etwas weiter in die Zukunft verschoben.

76 Prozent der Wälder in der Umgebung des etwa 40 Kilometer landeinwärts der havarierten Reaktoren gelegenen Ortes Iitate sind ähnlich hochgradig radioaktiv belastet wie die bis heute noch unbewohnte Zone 30 km rund um Tschernobyl. Mit dem Wind wird der radioaktiv belastete Staub in der Umgebung verteilt. Er liegt dann auf den Pflanzen auf den Feldern, auf den gewaschenen Straßen mit ihren 20 Meter breiten dekontaminierten Streifen, auf den gewaschenen Dächern und auf den Spielplätzen der Kinder. Für das Problem der "dekontaminierten" Dörfer in den kontaminierten Regionen rund um die explodierten Atomreaktoren der Atomkraftruine "Fukushima-I" gibt es keine Lösung.
Mit dem Wind kehrt die Radioaktivität zurück.

So absurd wie die Bemühungen um eine Dekontamination der verstrahlten Regionen sind, so niederträchtig sind die Methoden, mit denen die ehemaligen Bewohner der Dörfer "dazu bewegt werden" sollen, in ihre radioaktiv belastete Heimat zurückzukehren: Die staatlichen Entschädigungszahlungen für die betroffenen Haushalte werden eingestellt. Die meisten der Evakuierten werden sich schlicht unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten genötigt sehen, in die verstrahlten Dörfer zurückzukehren - in ein Leben jenseits jeder Normalität!
Auf diese Weise hofft Japans Regierung,
dass der Super-GAU in Vergessenheit gerät.

Es gibt aber auch Menschen - vor allem Frauen - die trotz alledem nicht zurückkehren werden. Die Angst vor der allgegenwärtigen Radioaktivität und die Sorgen um ihre Kinder sind größer als die Sorgen im Hinblick auf eine wirtschaftlich ungesicherten Zukunft.


Die Frauen


Fukushima - Mütter ziehen vor Gericht (© Greenpeace, 2017)

Internationale Bestimmungen sollen dafür sorgen, dass Frauen, Kinder und alte Menschen in Extremsituationen besonders geschützt werden. In Evakuierungszentren muss deshalb insbesondere darauf geachtet werden, dass die Intimsphäre der traumatisierten Frauen gewahrt bleibt und dass sie vor Vergewaltigungen geschützt sind. Für Kinder müssen Spielbereiche eingerichtet werden, um den Stress der Ausnahmesituation weitestgehend von ihnen fernzuhalten. Genau das aber wurde nach der Atomkatastrophe in Japan versäumt.

Die internationale Umweltschutzorganisation "Greenpeace" schreibt in einem Artikel auf ihrer Internetseite, die hochtechnisierte Wohlstandsnation Japan sei Unterzeichner einer Vielzahl internationaler Verträge und Menschenrechtsabkommen. Trotzdem würden aber gerade Frauen und Kinder in mehrfacher Hinsicht besonders unter der den Folgen des Super-GAUs leiden. Das gelte sowohl für ihre körperliche und seelische Verfassung, wie auch für ihre finanzielle und soziale Situation. Zwischen den einzelnen Faktoren gebe es Wechselwirkungen, so dass sie sich sich in ihren Auswirkungen gegenseitig verstärken.

Infolge der Radioaktivität komme es bei späteren Schwangerschaften von Frauen, die einmal einer erhöhten Radioaktivität ausgesetzt waren, wesentlich häufiger zu Tot- und Fehlgeburten, Missbildungen und Säuglingssterblichkeit, als bei radioaktiv unbelasteten Frauen. Zudem hätten es solche Frauen schwer, in der von Männern dominierten japanischen Kultur einen Ehemann zu finden und eine Familie zu gründen. Sie seien somit auch sozial ausgegrenzt.

In der ersten Zeit nach dem Super-GAU habe die japanische Regierung Messwerte unter Verschluss gehalten und die radioaktive Belastung heruntergespielt. Das habe dazu geführt, dass die ohnehin von der Radioaktivität stärker betroffenen Frauen und Kinder einer weit höheren Strahlung ausgesetzt wurden, als nötig gewesen wäre.

Mit dem Verweis auf eigene Messungen vor Ort bezeichnet Greenpeace die Wiederansiedelung in den radioaktiv kontaminierten Regionen, die von der japanische Regierung jetzt vorangetrieben werden, als unverantwortlich. Auch davon seien erneut insbesondere Frauen und Kinder betroffen. Ein unbeschertes Leben, in dem die Kinder sicher und behütet aufwachsen können, sei inmitten einer radioaktiv kontaminierten Sperrzone nicht möglich.

Grundsätzlich habe die finanzielle Unterstützung der japanischen Regierung bisher dazu beitragen, dass die von der Katastrophe Betroffenen besser mit dem Verlust ihrer Heimat umgehen konnten. Da die Ausgleichszahlungen nach der Evakuierung jedoch ausschließlich an die Haushaltsvorstände, also an die Männer ausgezahlt worden seien, konnten die Frauen nicht darüber verfügen. Hinzu komme, dass die Frauen in der japanischen Gesellschaft in der Regel ohnehin finanziell schlechter gestellt sind, als die Männer. Die Atomkatastrophe habe diese Ungleichheit noch einmal verstärkt.

Finanzielle Unabhängigkeit sei jedoch eine Voraussetzung dafür, eine verfahrene oder gewalttätige Beziehung verlassen zu können. Für viele der betroffene Frauen gebe es daher keinen Ausweg aus ihrer Situation.

Infolge der Atomkatastrophe, so heißt es in dem Artikel von Greenpeace weiter, seien viele Beziehungen zerbrochen und Familien auseinandergerissen worden. Einer der Gründe sei der Stress der Ausnahmesituation, der die Beziehung nicht gewachsen gewesen sei. Häufig seien es aber vor allem die Frauen gewesen, die sich aus Sorge um ihre Kinder zur Flucht aus den belasteten Gebieten entschieden haben, während ihre Männer, die sich aus Sorge um ihr Eigentum oder um weiterhin ihrer Arbeit nachgehen zu können, oftmals nicht dazu durchringen konnten. Viele dieser alleinerziehenden Frauen seien heute massiv von Armut bedroht.

Frauen seien zwar besonders verwundbar, aber nicht wehrlos. Viele von ihnen seien inzwischen nicht mehr bereit, ihr Schicksal einfach klaglos hinzunehmen. Der Widerstand gegen die japanische Regierung und deren Versuch, die Anwohner wieder in die verstrahlten Gebiete zurückzudrängen, werde überwiegend von Frauen organisiert. Sie hätten Online-Netzwerke gegründet, würden Demonstrationen planen, für Entschädigungen kämpfen und eine bessere Informationspolitik hinsichtlich der Folgen der Atomkatastrophe fordern.


Unequal Impact - ungleiche Auswirkungen

Die Art und Weise, in der die japanische Regierung auf die Atomkatastrophe vom 11. März 2011 reagierte - sowohl direkt im Anschluss, wie auch in den darauf folgenden Jahren - hatte eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen zur Folge. Insbesondere Frauen und Kinder leiden bis heute darunter. Das veranschaulicht ein aktueller Bericht mit dem Titel "Unequal Impact" (ungleiche Auswirkungen), den Greenpeace im März 2017 veröffentlicht hat.
  • Unequal Impact
    Bericht über Menschenrechtsverletzungen bei Frauen und Kindern nach dem Atomunfall im Kraftwerk Fukushima Daiichi (56 Seiten, englisch).

    Für diejenigen, deren englische Sprachkenntnisse seit der Schulzeit "etwas eingerostet" sind, gibt es eine Zusammenfassung auf Deutsch.

Kettenreaktion Tihange

Der dreifache Super-GAU von Fukushima, der sich heute zum sechsten Mal jährt, ist ein Jahrestag, der den Blick auf die seit dem 11. März 2011 andauernde Atomkatastrophe in Japan lenkt. Unter dem Eindruck der Ereignisse in Japan und der vorangegangenen massiven Proteste gegen die "Laufzeitverlängerung" der schwarz-gelben Bundesregierung hat der Bundestag damals einen halben Atomausstieg beschlossen. Mit dem Atomkraftwerk "Grafenrheinfeld" ist seitdem nur ein einziger weiterer Meiler vom Netz gegangen. Acht Atomkraftwerke, die immer älter und störanfälliger werden, sind weiterhin in Betrieb. Dazu heißt es in einer Pressemitteilung der Anti-Atomkraft Organisation ".ausgestrahlt" (Zitat):
".. Hatten die Menschen in Japan noch Glück im Unglück, weil der Wind einen Großteil der strahlenden Wolke auf den Pazifik hinaus wehte, so können wir hierzulande nicht darauf hoffen. Denn die acht noch laufenden Reaktoren in Deutschland liegen bis auf eine Ausnahme nicht in Meeresnähe.

Für die Stromversorgung werden die Atomkraftwerke in Deutschland nicht mehr benötigt. Der einzige Zweck des geplanten Weiterbetriebs bis 2022 ist es, den Energieunternehmen noch einige Milliarden Euro in die Taschen zu spülen. Dafür das weiter steigende Risiko eines schweren Unfalls in Kauf zu nehmen, ist nicht zu verantworten."
Hintergrund:
Die Stromproduktion aus Erneuerbaren Energien stieg von 104 TWh im Jahr 2010 auf mehr als 188 TWh im vergangenen Jahr.
  • Diese Steigerung um 84 TWh entspricht etwa der Atomstromproduktion im vergan­genen Jahr.
    (Franz Alt, Sonnenseite vom 10.03.2017)
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Import/Export Bilanz der deutschen Stromerzeugung. Im Jahre 2016 wurden 63,3 Terrawattstunden (TWh) ins Ausland exportiert. Die Importe aus dem Ausland lagen im gleichen zeitraum lediglich bei 15,8 TWh. Unterm Strich wurden also 47,5 TWh überflüssiger Strom erzeugt, der für die Stromversorgungin Deutschland nicht benötigt wurde (Agora Energiewende, Jahresauswertung 2016, Seite 26 /PDF: Seite 28).

Aber selbst wenn wir bis zur Abschaltung des letzten Atomkraftwerks in Deutschland - sofern es beim Beschluss von 2011 bleiben sollte wird das im Jahre 2022 der Fall sein - von einem Super-GAU verschont bleiben sollten, wird die Gefahr anschließend nicht aus der Welt sein. Rings um Deutschlands Grenzen werden dann immer noch Atomkraftwerke in Betrieb sein, deren Zustand bereits heute Anlass zur Sorge bietet.

Daran erinnern soll eine Ländergrenzen übergreifende Menschenkette erinnern, die am 25.06.2017 von Tihange (Belgien) über Lüttich (Belgien), Maastricht (Niederlande) bis Aachen (Deutschland) reichen soll. Unter dem Motto "Kettenreaktion Tihange" wollen Atomkraftgegner gemeinsam über Ländergrenzen hinweg gegen die Atonkraftwerke in Deutschland, in den Niederlanden und in Belgien demonstrieren.

Organisiert wird das ganze vom "Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie" (Deutschland) gemeinsam mit den Initiativen "Fin du nucléaire" (Belgien), "113eweging" (Belgien), "WISE - World Information Service on Energy" (Niederlande) und "Stop Tihange" (International). Damit genügend Menschen für die 90 Kilometer lange Strecke zusammenkommen sind auch wieder die Atomkraftgegner aus ganz Deutschland gefordert.

Details zur Aktion gibt es auf der Internetseite "Kettenreaktion Tihange".


Zum Weiterlesen
  • Defekte in den Reaktordruckbehältern
    von Doel 3 und Tihange 2

    Ergebnisbericht der Konferenz am 24. und 25. Januar 2014 zu der das "Aachener  Aktionsbündnis gegen Atomenergie" gemeinsam mit der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament nach Aachen eingeladen hatte.
  • No Return To Normal
    Fallstudien zur gegenwärtigen Situation in Iitate in der japanischen Präfektur Fukushima. Die Bewohner sind möglicherweise lebenslanger Strahlenbelastung ausgesetzt.
    (Greenpeace, veröffentlicht im Februar 2017, 28 Seiten, englisch)


(Quellen: GreenpeaceKettenreaktion Tihange, .ausgestrahlt Newsletter vom 22.02.2017 und Pressemitteilung vom 09.03.2017, Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie, Agora Energiewende - Jahresauswertung 2016 , Franz Alt - Sonnenseite vom 10.03.2017 )