Sonntag, 2. Juli 2017

Deutsche Interessenkonflikte im Zusammenhang mit den belgischen AKWs "Tihange" und "Doel"


25.06.2017: Menschenkette von Aachen bis zum AKW "Tihange" (Belgien)

Die Atomkraftanlagen "Tihange" (Lüttich) und "Doel" (Antwerpen) in Belgien stellen aufgrund von mehreren tausend kleiner Risse in den Reaktordruckbehältern eine grenzübergreifende Gefahr dar. Im Falle eines Störfalls, bei denen die Druckbehälter höheren Drücken und Temperaturen ausgesetzt wären, könnten sie früher bersten, als ein intakter Reaktordruckbehälter.

Deshalb protestierten am Sonntag, 25.06.2017 rund 50000 Menschen mit einer grenzübergreifenden Menschenkette, die von Aachen (Deutschland) über Holland bis zur Atomkraftanlage "Tihange" (Huy, bei Lüttich, Belgien) reichte, gegen den Weiterbetrieb der rissigen Atomreaktoren. Die Entfernung zwischen Aachen und "Tihange" beträgt etwa 70 Kilometer Luftlinie. Initirt worden war die Menschenkette von einem Bündnis aus Anti-Atomkraft-Organisationen in den drei genannten, von einem Super-GAU potentiell am meisten betroffenen Ländern.

Auf deutscher Seite ist in der grenznahen Städteregion Aachen während der letzten Jahre ein breites gesellschaftliches Bündnis aus Bürgern, Kommunen und Politik entstanden, das unter anderem auch mit rechtlichen Mitteln versucht, die endgültige Abschaltung der beiden Atommeiler zu erreichen. Auch Teile Nordrhein-Westfalens liegen im direkten Einflussbereich eines möglichen Super-GAUs in der Atomkraftanlage "Tihange". Da verwundert es eigentlich nicht, dass auch Herr Laschet (CDU, Nordrhein-Westfalen, Ministerpräsident) zu den Unterstützern der Protestaktion vom 25.06.2017 zählt. Die künftige schwarz-gelbe Landesregierung in Nordhein-Westfalen werde sich mit Nachdruck für die Abschaltung der Atomkraftwerke in Tihange und Doel einsetzen. Auch Herr Remmel (Bündnis 90/Die Grünen, bis zur Wahl des neuen Landtags am 14. Mai 2017 Umweltminister in Nordrhein-Westfalen) hatte die Stilllegung der "Bröckelreaktoren" gefordert.

April 2017 wurden im Rahmen erneuter Ultraschallinspektionen im Reaktor "Tihange" 70 zusätzliche Risse entdeckt. Herr Jambon (Belgien, Innenminister) begründet das damit, dass die Kamera dieses Mal anders positioniert wurde als bei der ersten Untersuchung vor drei Jahren. Er macht sich deshalb aber keine Sorgen. Mit den neu entdeckten Rissen habe sich die Sicherheitssituation nicht zugespitzt. Einige der 2014 bei der Inspektion von Tihange 2 entdeckten Haarrisse seien "gar keine wirklichen Schäden".
Besorgten Bürgern drängt sich allerdings unwillkürlich die Frage auf, was unwirkliche Schäden in Form vieler tausend Haarrisse, die im Druckbehälter eines Atomreaktors definitiv nichts zu suchen haben, von einem wirklichen Schaden unterscheidet und wie viele unentdeckte Risse noch zutage treten würden, wenn die Kamera bei weiteren Untersuchungen jeweils noch einmal anders positioniert werden würde, als es bei den beiden bisherigen Untersuchungen der Fall war. Und vielleicht würde sich ja auch Herr Jambon doch noch ernsthaft Sorgen um die Sicherheit seines Landes machen, falls ihm - ebenso wie vielen Menschen in Deutschland und den Niederlanden - eines nicht so schönen Tages einer der beiden Schrottmeiler einmal um die Ohren fliegen sollte ...
  • Ob er dann wohl von einem "wirklichen Schaden" sprechen würde?


Welch ein Irrsinn

Deutsche Atomkraftgegner werfen dem deutschen Umweltministerium vor, dass es nicht gegen die Belieferung der belgischen Atomkraftwerke mit neuen Brennelementen aus der deutschen Brennelementefabrik in Lingen (Niedersachsen) vorgeht. Auch die vom Atomausstiegsbeschluss der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung ausgenommene Brennelementefabrik ist immer wieder Ziel von Protestaktionen deutscher Atomkraftgegner.

Aus meiner Sicht ist der Atomausstieg in Deutschland solange nicht vollzogen, wie die Urananreicherungsanlage in Gronau und die Brennelementefabrik in Lingen noch den Rohstoff für die weltweit wachsenden Atommüllberge und einen jederzeit möglichen Super-GAU exportieren. Und im Falle eines Super-GAUs in der Atomkraftanlage "Tihange" würden - je nach Windrichtung - mehr oder weniger große Teile unseres Landes von den Spaltprodukten der Brennelemente aus deutscher Produktion radioaktiv kontaminiert werden. Welch ein Irrsinn!


Welch eine Heuchelei

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks am 20. April 2016: "Wenn mir die besten Experten, die wir bei uns in Sachen Reaktorsicherheit haben, nicht bestätigen können, dass die Sicherheitsreserven von Tihange 2 und Doel 3 eingehalten werden können, dann halte ich es für richtig, die Anlagen vorübergehend vom Netz zu nehmen." Nur zwei Monate später, im Juni 2016, genehmigte ausgerechnet das der Umweltministerin unterstellte "Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit" (BfE) erstmals die Belieferung der Atomkraftanlage "Tihange" mit Brennelementen aus Deutschland. Welch eine Heuchelei!

In einem Gutachten sagt Frau Ziehm (Rechtsanwältin, Berlin), das Atomgesetz gebe der Bundesregierung durchaus die Handhabe für ein Exportverbot, sofern der Betrieb der belieferten Reaktoren eine Bedrohung für die Sicherheit der Bürger darstelle. Zwar hätte sich der Betreiber der belgischen Atomkraftwerke (Engie-Electrabel) die Brennelemente auch von einem anderen Hersteller besorgen können, aber zumindest wäre mit einem deutschen Exportverbot ein deutliches Signal der Bundesregierung an die Verantwortlichen in der Regierung Belgiens gesendet worden.


Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Gestern berichteten die Medien nun über eine weitere Verflechtung von deutschen Interessen mit denen des Betreibers der belgischen Atomkraftanlagen "Tihange" und "Doel", die über die Unterstützung der geschäftlichen Interessen der deutschen Brennelementefabrik und des belgischen Atomkonzerns noch weit hinausgeht: Die Bundesrepublik Deutschland ist über ihren Pensionsfonds Miteigentümer der belgischen Atomkraftanlagen!

Berichten der "Aachener Zeitung" und der "Aachener Nachrichten" zufolge ist der Bund im Besitz von Aktien des belgischen Atomkonzerns "Engie-Electrabel" im Wert von mehr als 6,4 Millionen Euro. Das habe das Bundesinnenministerium auf Anfrage der Grünen mitgeteilt.

Frau Hendricks habe sich deswegen überrascht gezeigt. Sie habe bisher keine Kenntnis davon gehabt, dass der Bund über seinen Pensionsfonds indirekt an "Engie-Electrabel" beteiligt ist. Sie werde sich dafür einsetzen, dass die Anteile des Bundes verkauft werden. Es sei nicht miteinander vereinbar, wenn wir aufgrund der fragwürdigen Sicherheit die Abschaltung der belgischen Atomkraftwerke fordern und gleichzeitig ein finanzielles Interesse am Betrieb dieser Anlagen haben müssen.
  • Das sei eine Frage der Glaubwürdigkeit.
Schön, dass Frau Hendricks "unser" Problem der Glaubwürdigkeit bezüglich der Verflechtungen deutscher Interessen mit den belgischen Atomkraftanlagen inzwischen ebenfalls entdeckt hat. Nach meinem Verständnis steht es seit dem Bekanntwerden ihrer Duldung der Atomtransporte mit den Brennelementen nach "Tihange" um ihre eigene Glaubwürdigkeit allerdings auch nicht gerade zum Besten.


(Quellen: Aachener Zeitung vom 01.07.2017, Aachener Nachrichten vom 01.07.2017, ARD Tagesschau vom 01072017, Bayerischer Rundfunk vom 01072017, Die Zeit vom 25062017, ARD Tagesschau vom 25062017, .ausgestrahlt vom 25062017, ARD Tagesschau vom 28032017, ARD Tagesschau vom 27102016, Die Zeit vom 18122015, Stop Tihange vom 01052015, AtomkraftwerkePlag )