Ein Arbeitskollege, der sich nach eigener Aussage eigentlich gar nicht so für Fußball interessiert, meinte kürzlich, er könne stolz von sich behaupten, er habe bisher jedes Spiel der Fußball Europameisterschaft im Fernsehen gesehen. Das liegt wohl in erster Line daran, dass er sich das erste Mal zur Teilnahme an einer Tipprunde in Bekanntenkreis überreden lassen hat.
Ich habe ihm entgegnet, dass ich dafür von mir behaupten kann, noch kein einziges der Spiele gesehen zu haben. Warum denn auch: Die Ergebnisse der Spiele werden einem ohnehin bei jeder Gelegenheit aufgedrängt.
Wenn König Fußball regiert ...
Darüber, dass in der Ukraine allein im vergangenen Jahr rund 900000 Menschen Opfer von Folter und Gewalt durch Angehörige der Polizei wurden, erfährt man bestenfalls etwas am Rande der Fußball-Europameisterschaft. Diese Zahlen stammen von der "Vereinigung ukrainischer Menschenrechtler zur Beobachtung von Rechtsverletzungen" (UMDPL). Einem Bericht der TAZ vom 04.06.2012 ist zu entnehmen, das damit jeder 50. Bürger der Ukraine betroffen ist. Die tatsächliche Zahl könne aber noch höher liegen.
Nach Erkenntnissen der internationalen Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" zeigen die Opfer die meisten Fälle aus Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen der Polizei gar nicht erst an. Menschen würden willkürlich verhaftet, ohne Grund in Untersuchungshaft gehalten und dort teils schwer misshandelt. Im Jahr 2010 seien dabei in ukrainischen Haftanstalten nach Angaben der Organisation "Ukrainian Helsinki Human Rights Union" (UHHRU) 51 Menschen ums Leben gekommen.
In dem schon genannten Bericht der TAZ erfährt man etwas über eines dieser Folteropfer. Der junge Mann starb am 07.11.2011 im Alter von 27 Jahren in einem Krankenhaus in Kiew. Seine Mutter sagt, der Staat habe ihn umgebracht.
Unter dem Verdacht eine Damenhandtasche und ein Mobiltelefon gestohlen zu haben wurde er festgenommen und - obwohl ihm der Diebstahl nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte - zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt, aus der er im Jahre 2008 entlassen wurde. Im Dezember des darauffolgenden Jahres meldete eine Frau ihr Mobiltelefon als gestohlen. Fünf Tage später erhielt der junge Mann eine Vorladung der Polizei, von der er nicht mehr nach Hause zurückkehrte. Erst nach mehreren Tagen fand seine Mutter heraus, dass ihr Sohn in Untersuchungshaft saß. Nachdem sie in den folgenden Monaten nur hin und wieder am Telefon mit ihm sprechen konnte, erhielt sie im April 2010 einen Anruf aus dem Krankenhaus: Ihr Sohn liege auf der Intensivstation. Bei zwei Operationen seien unter anderem die Milz und Teile eines Lungenflügels sowie einer Niere entfernt worden. Aus dem Krankenhaus ging es zurück ins Untersuchungsgefängnis. Wie die Mutter mithilfe eines Anwalts später hersusfand, wurde ihr Sohn gleich nach seiner Festnahme und während der Haft immer wieder brutal misshandelt, bis er endlich ein Geständnis ablegte und im Februar 2011 erneut zu viereinhalb Jahre Haft verurteilt wurde.
Unter der Führung Herrn Janukowitsch (Ukraine, Präsident) entwickelte sich die Regierung der Ukraine zu einem autokratischen Regime. Dafür, und für die unmenschliche Behandlung von Frau Timoschenko (Ukraine, ehemalige Regierungschefin) wird das Regime international kritisiert. Mit der Ausrichtung eines großen Teils der Fußballeuropameisterschaft in der Ukraine steht jedoch wieder einmal ein Regime, das die Verantwortung für schwerste Menschenrechtsverletzungen trägt, unverdient im internationalen Rampenlicht des Sports.
... werden die Kritiker übertönt
Es überrascht mich keinesfalls, wenn die Süddeutsche Zeitung gestern meinte, seit der Ball rolle, seien die Proteste verklungen. Mit schlechtem Beispiel gehe diesbezüglich ausgerechnet Herr Friedrich (CSU, Bundesinnenminister) voran. Dieser habe angekündigt, er wolle zu jedem Spiel der deutschen Mannschaft reisen, falls diese nach der Vorrunde weiter im Spiel sei. Das sei ein klarer Bruch mit der bisherigen Haltung der Bundesregierung, derzufolge die Ukraine gemieden werden sollte, so lange sie sich im Fall der Frau Timoschenko nicht bewege.
Im April dieses Jahres wurde die ukrainische Strafprozessordnung reformiert. Nach Auskunft von "Amnesty International" beinhaltet die Reform auch neue Maßnahmen gegen Folter. Dieser Teil der Reform sei zwar begrüßenswert, doch müsse er jetzt auch zügig umgesetzt werden, damit Folter und Misshandlungen in ukrainischen Gefängnissen und seitens der rechtswidrigen Polizeigewalt ein Ende bereitet wird. In einer Petition fordert "Amnesty International" die Regierung der Ukraine deshalb auf,
- so schnell wie möglich eine unabhängige Institution einzurichten, die alle Folter-Verdachtsfälle und andere Vergehen der Polizei untersucht,
- jeden Polizei- und Vollzugsbeamten strafrechtlich und disziplinarisch zu verfolgen, der im begründeten Verdacht steht, gefoltert und misshandelt zu haben,
- Hafteinrichtungen systematisch zu überwachen, um Amtsmissbrauch und Folter durch die Polizei vorzubeugen.
Wer sich der Petition anschließen möchte, der findet dafür auf der Internetseite von "Amnesty International" die Gelegenheit.
(Quellen: Süddeutsche Zeitung vom 13.04.2012, TAZ vom 04.06.2012, Amnesty International, Wikipedia)
2 Kommentare:
Wahnsinn!!! Ich habe gerade unterschrieben.
Grüsse in den Abend
Elfe
deshalb verstehe ich auch, nicht wenn Gegner eines Boykotts meinen, die Aufmerksamkeit einer EM würde den Menschen helfen. Das dies nicht der Fall ist, kann man sehr deutlich in Aserbaidschan nach dem Song Contest sehen.
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