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Die Kalksandsteinfabrik "Kistner" im Februar 2008: Tonnendachhalle (links), rechts davon Kesselhaus und Schornstein, im Hintergrund das Verwaltungsgebäude |
Gestern Abend tagte die Stadtteilkonferenz Lehe. Einer der Tagesordnungspunkte betraf die Zukunft des Phillips-Fields und des seit vielen Jahren brachliegenden Geländes der ehemaligen Kalksandsteinfabrik "Kistner".
Während die anwesenden Politiker bezüglich des Phillips-Fields glaubhaft darlegten, dass es dort in absehbarer Zukunft keine wesentlichen Veränderungen geben wird, ist über die Zukunft des Kistnergeländes noch nicht das letzte Wort gesprochen worden. Der Koalitionsvereinbarung zwischen der CDU und der SPD für die "19. Wahlperiode der Seestadt Bremerhaven 2015 – 2019" ist zu entnehmen, dass zwar der Schornstein der Kalksandsteinfabrik H.-F. Kistner als Industriebaudenkmal erhalten werden soll, nicht aber die Pressenhalle, die in Bremerhaven besser unter der Bezeichnung "Tonnendachhalle" bekannt ist (
Seite 12, Absatz 3, Zitat):
".. Da es über Jahre nicht gelungen ist, für die Pressenhalle einen privaten Nutzer zu finden, soll diese zurückgebaut werden. Der Schornstein bleibt als Industriedenkmal erhalten. Für die Maßnahmen wird die Stadt die übrigen Gebäude abreißen und die bestehenden Kontaminationen beseitigen. .."
Vor der Wahl war von einem Abriss der Tonnendachhalle keine Rede gewesen - jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Seit vielen Jahren setzen sich die Bürger aus den Ortsteilen im Süden Lehes für eine Entwicklung des Kistnergeländes ein. Mehr als ein Jahrhundert lang hat die Kalksandsteinfabrik mit ihrem Schornstein das Stadtbild in diesem Abschnitt der Hafenstraße geprägt. Die Firma Kistner gehört zu der Gründungsgeneration der Kalksandsteinindustrie in Deutschland und war mit ihrer Fabrik maßgeblich an der Entwicklung der Herstellung des damals revolutionären Baustoffs "Kalksandstein" beteiligt.
Bezüglich einer Entwicklung des Geländes wurde neben dem Wunsch nach einem Lebensmittel-Frischemarkt mittlerer Größe und einem Naherholungsbereich entlang der Geeste mit Fortführung des Geestewanderweges in Richtung Kapitänsviertel deshalb immer auch die Erhaltung des Ensembles "Schornstein und Tonnendachhalle" als bedeutendes Industriedenkmal genannt. Hinzu kommt, dass zwischenzeitlich auch das Landesamt für Denkmalpflege Bremen
den Schornstein und die Tonnendachhalle als erhaltenswertes Industriedenkmal in ihre Datenbank aufgenommen hat. Beide Bestandteile dieses Ensembles sind dementsprechend
im Lageplan rot markiert.
In den zurückliegenden Jahren sind im Rahmen der Stadtteilkonferenz Lehe immer wieder zahlreiche Ideen und Vorschläge für eine Nutzung der Halle entwickelt und diskutiert worden. Mehrere potentielle Investoren haben in der Vergangenheit ihr Interesse für eine Nutzung des Geländes -
auch unter Einbeziehung der genannten historischen Industriegebäude - bekundet.
Rückblende:
Einer dieser Investoren war beispielsweise die IVMG, die ein schlüssiges Nutzungskonzept vorgelegt und - anstatt Vorleistungen von der Stadt Bremerhaven zu fordern - 2 Millionen Euro für den Kauf des Geländes angeboten hatte. Der Vorschlag traf in der Stadtteilkonferenz Lehe auf große Zusimmung. Da die CDU damals andere Pläne mit dem Kistnergelände und dem Phillips-Field verfolgte, fiel ihr nichts besseres ein, als die IVMG in einem Abschnitt einer ganzseitigen Anzeige im Sontagsjournal vom 19.03.2008 übel zu diffamieren, obwohl diese mit dem Arnold-Areal in der Stadt Schorndorf ein erfolgreiches Referenz-Projekt vorweisen konnte, das damals deutliche Parallelen mit dem Kistnergelände aufwies. Nachdem der Investor mit einem öffentlichen Brief an Herrn Schulz (SPD, damals Oberbürgermeister) dazu Stellung genommen hatte, war die Sache vom Tisch.
Wenn die SPD und die CDU in ihrer Koalitionsvereinbarung schreiben, es sei über Jahre nicht gelungen, einen privaten Nutzer für die Pressenhalle zu finden, dann ist trifft das so also
"nicht ganz zu". Es wäre fahrlässig, die Halle abzureißen, ohne vorher zumindest noch einmal ernsthaft versucht zu haben, nach einer Lösung für ihren Erhalt zu suchen. Übereilte und unüberlegte Abrissaktivitäten haben ohnehin schon viel zu viele Lücken im Gedächtnis unserer Stadt hinterlassen.
Mir ist durchaus bewusst, dass das Geld in Bremerhaven knapp ist. Herr Allers (SPD, Fraktionsvorsitzender) legte hat gestern Abend dar, welche Kosten -
grob überschlagen - mindestens zu erwarten sind, um das ehemalige Industriegelände überhaupt "baureif" zu machen. Die Rede war von etwa 7 Millionen Euro allein für die Bodensanierung und den Abriss der Gebäude -
inklusive der Tonnendachhalle.
Alternativ seien auch die Kosten für den Erhalt des historischen Gebäudes überschlagen worden. Dabei sei über zwei Varianten nachgedacht worden:
- Kalte Sanierung:
Dafür würde das Gebäude so weit saniert werden, dass eine anschließende Nutzung während der wärmeren Monate des Jahres möglich wäre. Auf den Einbau einer Heizung würde man verzichten.
- Warme Sanierung:
Die Tonnendachhalle würde saniert und mit einer Heizungsanlage versehen werden, so dass sie während des gesamten Jahres nutzbar wäre.
Für die "kalte" Variante wären nach übereinstimmender Darstellung seitens Herrn Allers und Herrn Raschens (CDU, Fraktionsvorsitzender) etwa 1,1 Millionen Euro zu veranschlagen. 1,5 Millionen Euro seien für die "warme" Variante aufzubringen.
Zu den Kosten, die von der Stadt für die Bodensanierung, die Abrissarbeiten und den Erhalt des "Schornsteins mit dem Kesselhaus" aufgebracht werden müssen, käme noch die Sanierung der mehr als einhundert Jahre alten Kaje an der Geeste hinzu, an der früher die Lastkähne mit dem Material für die Kalksandsteinherstellung entladen wurden. Deren Sanierung ist notwendig, um das Gelände gegen ein Abrutschen in die Geeste zu sichern.
Die dafür zu erwartenden Kosten seien überhaupt noch nicht abzuschätzen. Nach den Erfahrungen mit den Kajensanierungen der letzten Jahre werde aber auch dafür eine hohe Summe aufgebracht werden müssen. Die vorher genannten Zahlen für die Bodensanierung und die Abrissarbeiten seien als
'nach grober Schätzung mindestens zu erwartende Kosten' zu verstehen. Wahrscheinlich würden diese jedoch höher ausfallen.
Vor den Zahlen kapitulieren ...
Ein Besucher, der sich zu Wort meldete, hatte sich die Mühe gemacht, die oben genannten Kosten über einen Zeitraum von zehn Jahren anteilig bis auf einen Tag herunterzubrechen. Er meinte, das entspräche dann den täglichen Aufwendungen eines potentiellen Investors für das Kistnergelände.
Ich habe mir seine Zahlen so schnell nicht merken können, aber 10 Jahre entsprechen ja rund 3650 Tagen. Bei etwa 7 Millionen Euro (Bodensanierung plus Abrisskosten) dividiert durch 3650 Tage kommt man über zehn Jahre auf gut 1900 Euro pro Tag. Der Besucher meinte, kein Investor wäre bereit, zehn Jahre lang Tag für Tag eine solche Summe für ein leergeräumtes Grundstück aufzubringen - und wenn darauf auch noch eine Halle mit einem Schornstein stünde, schon gar nicht.
- Nun: Die Konsequenz aus dieser Betrachtungsweise wäre, dass man alles so weiter vor sich hin rotten ließe wie bisher und darauf wartet, bis sich das Problem im Verlaufe einiger Generationen vielleicht von selbst erledigt. Aber das kann's ja wohl auch nicht sein, oder?
... oder um die Ecke denken
Während der Stadtteilkonferenz Lehe am 01.10.2015 war lange über die Zukunft der als schützenswert eingestuften historischen Gebäude auf dem Kistnergelände gesprochen worden. Abschließend beschlossen die damals anwesenden Bürger und Vertreter der in Lehe aktiven Interessengemeinschaften, Vereine etc., die Politik aufzufordern, alles dafür zu unternehmen, den Schornstein und die Tonnendachhalle der Kalksandsteinfabrik Kistner als bedeutendes Industriedenkmal zu erhalten.
Während die Politiker der SPD und der CDU in Anbetracht der zu erwartenden Kosten gestern immer wieder darauf hinwiesen, dass ein Investor für die Tonnendachhalle gefunden werden müsse, der bereit sei, die vorher seitens der Stadt investierten Kosten in irgendeiner Weise zu kompensieren, kam aus den Reihen der Besucher der Stadtteilkonferenz der Vorschlag, das Gebäude einfach nur soweit zu sanieren, dass es nicht weiter verfällt, und dann erst einmal
"einfach so als Industriedenkmal stehen zu lassen". Mehrere weitere Besucher stimmten in ihren Diskussionsbeiträgen diesem Vorschlag ausdrücklich zu.
Das wäre auch in meinem Sinne. Aufgrund der über die Grenzen Bremerhavens hinausgehenden Bedeutung des historischen Kerns des Kalksandsteinwerks und seiner Geschichte sollte es meines Erachtens der Mühe wert sein, nach alternativen Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. Bisher ist seitens der Politiker immer nur von
EFRE-Mitteln oder Mitteln aus dem Programm
"Stadtumbau West" die Rede. Möglicherweise ließen sich aber ja auch Mittel aus
anderen Förderprogrammen des Bundes, der EU oder einer Siftung für den Denkmalschutz akquirieren. Hier ist eine kleine Auswahl solcher Stiftungen:
Sofern sich rechtzeitig kein Investor für eine kommerzielle Nutzung fände, wäre beispielsweise auch eine Betreuung des Gebäudes durch einen Verein denkbar. Wichtig wäre erst einmal nur, dass zuvor eine grundlegende Instandsetzung durchgeführt werden würde, damit der weitere Verfall des Gebäudes aufgehalten wird. Wenn es um die Erhaltung dieses Industriedenkmals von überregionaler Bedeutung geht, für das es derzeit aber kein Nachnutzungskonzept gibt, dann muss man manchmal etwas um die Ecke denken.
Immerhin: Der Dialog ist eröffnet
Da die Fraktionen der SPD und der CDU in der Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung bis zum September kein Interesse an einer öffentlichen Diskussion über die Entwicklung des Kistnergeländes gezeigt hatten, dürften die in der Koalitionsvereinbarung nachzulesenden Abrisspläne den meisten Bürgern Bremerhavens zuvor wohl kaum bekannt gewesen sein. Erst sehr spät sprach sich daher langsam herum, dass ein weiteres historisches Denkmal aus dem Stadtbild, und damit aus dem Gedächtnis der Stadt zu verschwinden droht.
Eigentlich sollte man meinen, dass die Bremerhavener Politiker aus dem heftigen Widerstand der Bürger gegen die Pläne der SPD und der CDU während der 17. Wahlperiode der Seestadt Bremerhaven gelernt hätten. Damals ging es um Abrisspläne der SPD und der CDU auf dem Kistnergelände und dessen Umwandlung in ein Gewerbegebiet mit mehreren großen Hallen für Supermärkte, Baumärkte etc., sowie um die Ansiedlung eines "Kaufland"-Vollversorgers auf dem nahegelegenen Phillips-Field.
Immerhin ist der notwendige Dialog zwischen den Bürgern und der Politik mit der gestrigen Stadtteilkonferenz Lehe nun doch noch eröffnet worden. Ich hätte es allerdings begrüßt, wenn die Initiative dazu von der Bremerhavener Regierungskoalition ausgegangen wäre.
Schonfrist
Im Zusammenhang mit den zu erwartenden, nach oben hin offenen Sanierungskosten für das Kistnergelände erklärten Herr Allers und Herr Raschen, dass angsichts der bisher ungeklärten Finanzierung mit einem Beginn der Arbeiten so schnell wohl nicht zu rechnen ist. Herr Raschen betonte, er halte sich bezüglich des geplanten Abrisses der Tonnendachhalle an den Koalitionsvertrag, ließ aber in einem Nebensatz durchblicken, dass er unter Umständen offen für den Erhalt der Tonnendachhalle wäre, wenn sich zwischenzeitlich ein Investor dafür fände.
Herr Allers griff diesen Punkt in seinen Ausführungen noch einmal auf. Er sei bekannt dafür, dass er am liebesten jedes historische Objekt erhalten würde. Sofern sich eine Lösung für die Finanzierung finden würde, sei er der letzte, der die Tonnendachhalle abreißen lassen würde. So wie ich ihn bisher kennengelernt habe, gehe ich davon aus, dass man ihn diesbezüglich beim Wort nehmen kann.
Es gibt also noch eine undefinierte Schonfrist für die Tonnendachhalle, die es zu nutzen gilt. Das wäre jedoch nicht die Aufgabe der Bürger, sondern die des Stadtplanungsamtes. Der Auftrag, Fördermittel für den Erhalt der Tonnendachhalle einzuwerben, müsste von den dafür verantwortlichen Politikern erteilt werden. Ob die jedoch dazu bereit sind bleibt erst einmal abzuwarten ...
Nutzung für Bürgerkriegsflüchtlinge
Abgesehen von der bisher ungeklärten Finanzierung stellte Herr Allers dar, dass sich die Sanierung des Kistnergeländes noch weiter verzögern könnte, da derzeit über eine Nutzung des ehemaligen Verwaltungsgebäudes auf dem Kistnergelände für die Unterbringung von Flüchtlingen aus Syrien und die Einrichtung sogenannter "Willkommensklassen" nachgedacht werde. Darüber hinaus sei man auch bezüglich der nahegelegenen, ehemaligen Geschäftsräume des Teppichhauses Behrens über eine solche Nutzung im Gespräch.
Auf Nachfrage eines Besuchers der Stadtteilkonferenz erklärte Herr Allers den Begriff "Willkommensklasse". Damit seien Schulungen für die in Bremerhaven bisher noch dezentral untergebrachten Flüchtlinge gemeint, mit denen sie in die Lage versetzt werden sollen, überhaupt am Unterricht an den öffentlichen Schulen teilnehmen zu können. Nicht nur aufgrund der Sprachbarriere, sondern auch wegen der -
je nach Herkunft - oftmals sehr unterschiedlichen Vorbildung aus ihrer Heimat müssten sie erst einmal auf den ihrem jeweiligen Lebensalter entsprechenden Bildungsstand der jeweiligen Schulklassen in unserem Bildungssystem gebracht werden.
(Quellen: Sonntagsjournal vom 19.03.2008 und vom 03.01.2008, Koalitionsvertrag, Datenbank des Landesamts für Denkmalschutz Bremen, Ministerium für Verkehr und Infrastruktur des Landes Baden-Württemberg, Europäischer Fonds für regionale Entwicklung - EFRE, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit )