Dienstag, 25. August 2009

Stiefmütterliche Behandlung der Stadtteile

Umgang mit sozialen Brennpunkten

In einem Interview, das in der August-Ausgabe des Magazins "Laufpass" auf Seite 8 nachzulesen ist, wurde Herr Schulz (SPD, Oberbürgermeister) zu dem Vorwurf befragt, im Zuge des derzeitigen Strukturwandels in Bremerhaven seien die sozialen Brandherde der Stadt von der Politik vergessen worden. Er sagte darauf, seine Philosophie sei es, den infolge eines vorangegangenen langjährigen Strukturwandels entstandenen sozialen Brennpunkten mit der Schaffung von Arbeitsplätzen zu begegnen.

In dem Punkt, dass die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen eines der drängendsten Probleme in Bremerhaven ist, kann ich Herrn Schulz nur zustimmen. Die hohe Arbeitslosigkeit in Bremerhaven ist im Übrigen kein neues Problem. In diesem Zusammenhang kommt es allerdings auch darauf an, von was für einer Art von Arbeitsplätzen die Rede ist. Viele der arbeitslosen Bremerhavener wären auf Arbeitsplätze angewiesen, für die keine hohe Qualifikation notwendig ist, die aber gleichzeitig ein ausreichendes Einkommen ohne zusätzliche Unterstützung aus Hartz-IV-Mitteln ermöglichen. Mit der Schaffung von hochqualifizierten Arbeitsplätzen ist vielen der Arbeitslosen nicht geholfen.

Ich stimme Herrn Schulz ebenfalls zu, wenn er meint, über auskömmliche Arbeit sei es möglich die Stadt wieder auf die Beine zu stellen, und ich denke auch, dass damit in der Folge der eine oder andere soziale Brennpunkt verschwinden könnte.

Wenn Herr Schulz in dem Interview aber durchblicken lässt, mit der Schaffung von Arbeitsplätzen, die in ein bis zwei Generationen vielleicht zur Gesundung der sozialen Brennpunkte in den Stadtteilen führen könnten, sei alles getan, und man könne dann die Hände in den Schoß legen und einfach abwarten was passieren wird, dann kann ich das so nicht hinnehmen! Es gibt Probleme, denen man heute aktiv begegnen muss. In einigen Jahren könnten die Schäden bereits so groß geworden sein, dass dann auch keine Arbeitsplätze mehr helfen, um sie zu beheben. Das trifft insbesondere auf dringend notwendige Maßnahmen zur Erhaltung des Stadtbildes im Leher Ortsteil Goethestraße zu. Herr Schulz sagte in dem Interview, er wolle diese sozialen Brennpunkte nicht "immer aus dem Haushalt sponsern". Ich frage mich, ob es der Politik nicht peinlich sein muss, wenn private Initiativen, wie zum Beispiel der Verein "Rückenwind für Leher Kinder", zeigen, dass es sehr wohl darauf ankommt, die sozialen Brennpunkte aktiv zu "sponsern". Die Kinder benötigen die Hilfe des Vereins jetzt - nicht in zwanzig oder dreißig Jahren, wenn sie vielleicht selbst Kinder haben werden.


Ladenleerstände in Geestemünde und Lehe

Herr Schulz sagte in dem Interview, er könne nicht sagen, wann der am Alten- und Neuen Hafen sichtbare Strukturwandel in den Stadtteilen ankommen würde. Das würde aber noch Jahre dauern. Er hält es für entscheidend, kraftvolle Entwicklungen in der Hafenstraße und der Georgstraße zu fördern. Der dort massiv auftretende Ladenleerstand müsse verschwinden. Er meint, man müsse diesen Straßen ein Gesicht geben, stellt dann aber gleich die Frage, ob die Stadt überhaupt die Möglichkeiten hat, so etwas zu machen. Da seien vielmehr die Hauseigentümer gefragt.

Dem halte ich entgegen, dass die Politik in dieser Stadt in der Vergangenheit alles dafür getan hat, dass es überhaupt zu diesen Ladenleerstanden in den Geschäftszentren der Stadtteile Lehe und Geestemünde kommen konnte. Ich kann mich noch gut an die Zeit in den sechziger/siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erinnern, als die Hafenstraße das Gesicht eines lebendigen Geschäftszentrums hatte. Es war die Politik - in den letzten Jahren insbesondere die der Großen Koalition - die über lange Zeit nichts gegen den Wildwuchs bei der Ansiedlung von Supermärkten und Discountern in Bremerhaven unternommen hat. Im Gegenteil: Bis in die heutige Zeit haben politische Beschlüsse dazu geführt, dass dieser Wildwuchs massiv gefördert wurde.


Wildwuchs (zum Vergrößern bitte auf den Lageplan klicken)

Zur Zeit scheint es zum Beispiel so gut wie sicher zu sein, dass der von der Politik in die Wege geleitete Verkauf des Wilhelm-Kaisen-Platzes an die holländische Ten Brinke Gruppe zur Folge haben wird, dass dort mit "OBI" in der Nachbarschaft zu "Max Bahr" und "Bauhaus" in "Fußwegentfernung" (400 bis 1000 Meter) ein dritter Baumarkt eröffnet werden wird.

Nur der massive Widerstand der Bürger, vor allem aus dem südlichen Lehe, hat letztlich dazu geführt, dass der Verkauf des "Phillips-Fields" und die dortige Ansiedlung eines Kaufland-Vollsortimenters direkt an der Zufahrt zur Hafenstraße "erst einmal auf Eis gelegt" wurde. Mit dem "Verzicht auf Kaufland" wurde der faule Kompromiss zur Ansiedlung von OBI auf dem Wilhelm-Kaisen-Platz zwischen den "Partnern" der Großen Koalition begründet. Die CDU hat allerdings bereits angekündigt, in der folgenden Legislaturperiode beim Phillips-Field dort anknüpfen zu wollen, wo sie jetzt (vorübergehend) aufgehört hat. Die Grundlagen dafür wurden bereits während der laufenden Legislaturperiode gelegt.

Auch der Abriss des Kalksandsteinwerks der Firma Kistner, das vom Landesdenkmalpfleger als erhaltenswertes Industriedenkmal eingestuft wurde, und der Verkauf des Areals an die Ten Brinke Gruppe, die dort ein Super- und Fachmarktzentrum errichten wollte, scheiterte am massiven Widerstand aus der Leher Bevölkerung. Die in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebene Bürgerbeteiligung bei der Entwicklung des Kistner Geländes hat nie stattgefunden. Das Areal ist jetzt europaweit zum Verkauf ausgeschrieben.

Die Liste ließe sich mit dem Niedergang des Marktzentrums an der Elbestraße, in dessen Nähe auf dem Gelände des ehemaligen Gaswerks gerade ein neues Marktzentrum aus dem Boden gestampft wird, dem Wulsdorf-Center, dem Einkaufszentrum in Leherheide etc. noch endlos fortsetzen ...

Erst Ende Juni 2009 hat die CDU ihre Blockadehaltung aufgegeben, und endlich der Erstellung eines Einzelhandelsgutachtens zugestimmt. Seit langer Zeit fordern Bremerhavener Bürger und viele Institutionen ein solches, von allen Betroffenen und der Politik gemeinsam in Auftrag zu gebendes Gutachten, um damit eine gemeinsame Entscheidungsgrundlage für die Genehmigung der Ansiedlung neuer Supermärkte in der Hand zu haben. Die Gewerkschaft Verdi wies bereits im November 2008 auf einer Stelltafel vor Karstadt darauf hin, dass Bremerhaven bei sinkender Kaufkraft und höherer Arbeitslosigkeit eine höhere Verkaufsfläche pro Kopf habe als der Bundesdurchschnitt. In einer Pressemitteilung der GfK vom Dezember 2008 heißt es im letzten Absatz auf Seite 2, unter den 25 Kreisen mit der geringsten Kaufkraft befänden sich nach wie vor nur ostdeutsche Kreise. Die einzige Ausnahme sei der Stadtkreis Bremerhaven, der von Rang 403 auf Rang 410 gefallen ist. Damit wird deutlich, dass die weitere Ansiedlung von Supermärkten nur zu Lasten des bereits bestehenden Einzelhandels in Bremerhaven gehen kann. Auszubaden werden das dann die Beschäftigten im Einzelhandel haben, wenn Arbeitsplätze mit tariflichen Arbeitsverhältnissen verloren gehen und dafür 400 Euro Jobs in neuen Supermärkten geschaffen werden.

Die Verödung der Versorgungslage in den Zentren der Stadtteile, und die daraus resultierenden Ladenleerstände, sind eine direkte Folge des von der Politik geduldeten bzw. geförderten Supermarkt- und Discounter Wildwuchses. Herr Schulz meint in dem Interview, wenn es keine Nachfrage nach Ladenflächen gebe, dann sollte überlegt werden, diese zum Beispiel als Wasch- oder Trockenräume zu nutzen. Da kann ich Herrn Schulz ja nicht einmal vorwerfen, es mangele ihm an einer Idee, womit man die leeren Läden füllen könnte. Ich frage mich allerdings, wer denn wohl so viele Wasch- und Trockenräume brauchen kann. Zur Wiederbelebung und Stärkung der Geschäftszentren in den Stadtteilen wäre das außerdem kein so toller Beitrag. Da wäre schon eher die massiv geförderte Ansiedlung von Handel und Kleingewerbe in den leerstehenden Läden gefragt.


Verwahrloste Immobilien in Lehe

In dem Interview wurde Herr Schulz gefragt, was er angesichts kompletter verfallender Straßenzüge in Lehe machen wolle, wenn er bei Eigentümern auf keine Bereitschaft stoße, daran etwas zu ändern.
  • Wer in einem Interview in seinen Fragen an zwei Stellen von ganzen verfallenden Straßenzügen in Lehe spricht ("In Lehe verfallen ganze Straßenzüge.", "In Lehe betrifft es ganze Straßenzüge und nicht einzelne Häuser, die verfallen."), der ist mit Sicherheit noch nie mit offenen Augen durch den größten Bremerhavener Stadtteil gegangen!
Bei einer solchen Fragestellung entsteht vor den Augen eines ortsfremden Lesers unweigerlich das Bild einer großflächigen Ruinenlandschaft, die sich auf einen ganzen Stadtteil erstreckt. Lehe ist jedoch bedeutend größer, als der Ortsteil "Goethestraße", der im Allgemeinen gemeint ist, wenn Lehe in der Presse in dieser Weise "schlecht geredet" wird. Selbst für das Viertel "Goethestraße" trifft der mit der Fragestellung suggerierte großflächige Verfall nicht zu.

Glücklicherweise ist es noch nicht ganz so weit gekommen, dass in Lehe ganze Straßenzüge verfallen. Auch im Ortsteil "Goethestraße" beschränken sich die Probleme bis jetzt noch auf einzelne verwahrloste Immobilien, deren Besitzer sich nicht um ihr Eigentum kümmern. Diese verwahrlosten Gebäude ziehen allerdings, wie auch von Herrn Schulz richtig erkannt, benachbarte Häuser in Mitleidenschaft, weil diese sich dadurch schlechter vermieten lassen.

Bisher haben die Städte und Kommunen keine andere Handhabe gegen Immobilienspekulanten, als diese bei Zwangsversteigerungen zu überbieten. Das scheitert aber, zumindest in Bremerhaven, überwiegend an chronischer Ebbe in der Stadtkasse. Versuche zur Schaffung einer rechtlichen Handhabe, die den Kommunen im Falle von Zwangsversteigerungen ein generelles Vorkaufsrecht zum Verkehrswert einer verwahrlosten Immobilie einräumt, scheiterten bisher am Widerstand des Bundes. Herr Schulz meint, wenn die Stadt eine solche rechtliche Handhabe hätte, dann hätte sie die Möglichkeit einfach zu sagen: "Dieses Haus verschwindet hier!" Herrn Schulz schwebt ein "Instrumentenkasten" vor, aus dem man sich in den Einzelfällen bedienen kann. Dazu müssten aus seiner Sicht Gesetze her - bis hin zur Enteignung.

Neben Schäden durch Immobilienspekulanten gibt es auch das Phänomen der Mietnomaden, die in eine Wohnung einziehen, ihre Miete nicht zahlen, erst angesichts eines drohenden Gerichtsbeschlusses ausziehen, um dann den nächsten Vermieter zu schädigen. Aufgrund dadurch ausgefallener Mieteinnahmen, die dann für die Gebäudeinstandhaltung fehlen, können Häuser auch an den Rand der Verwahrlosung geraten. Mit solchen Mietnomaden wären wir dann wieder in der Rubrik "sozialer Brennpunkt" angelangt. Unabhängig von der Ursache, die zur Verwahrlosung eines Gebäudes geführt hat, kommt für die betroffenen Gebäude bzw. für die Vermieter jede Hilfe zu spät, die irgendwann in vielen Jahren aufgrund neu geschaffenerer Arbeitsplätze möglicherweise zur Verfügung stehen könnte. Damit wird meiner Ansicht nach deutlich, dass es in einigen Fällen nicht ohne "sponsern aus dem Haushalt" gehen wird. Der geringste Schaden für das Gemeinwohl würde entstehen, wenn bereits am Beginn einer Verwahrlosung eine Kombination aus geeigneten rechtlichen Mitteln und Fördermöglichkeiten zur Verfügung stünde. Und hier wäre sehr wohl die Politik gefragt, etwas zu unternehmen.

"Komplette verfallende Straßenzüge" - wie oben suggeriert - im gründerzeitlich geprägten Leher Ortsteil "Goethestraße" niederzureißen, würde bedeuten, dem Quartier seine Identität zu nehmen. Das gilt aber unter Umständen im Ansatz bereits für den Abriss einzelner Gebäude, wenn dadurch Lücken im Gesamtbild eines durchgehend aus gründerzeitlichen Schmuckfassaden bestehenden Straßenzugs entstehen. Aber auch wenn solche Lücken mit unpassenden Neubauten aufgefüllt werden würden, deren Fassaden sich nicht in die Umgebung einpassen, würde das Bild eines solchen Straßenzuges nachhaltig geschädigt werden. An einigen Stellen im Quartier sind (neben hervorragend integrierten Neubauten) leider bereits derartige Bausünden aus den sechziger/siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu besichtigen.

Aus meiner Sicht muss Sanierung deshalb unbedingt Vorrang vor Abriss haben. Nur in unvermeidbaren Ausnahmefällen sollte der Abriss historischer Gründerzeithäuser genehmigt werden. Wenn es einen Instrumentenkasten gäbe, wie Herr Schulz ihn gerne hätte, und die Poltiker einfach den Abrissbagger durch den Stadtteil rollen lassen könnten, dann weiß ich nicht, ob ich mich nicht eher an den Anblick leerstehender Spekulationsruinen gewöhnen könnte, als an die Zerstörung der Identität des Viertels.


(Quelle: Laufpass Nr. 21, August 2009, Seite 8; Nordsee-Zeitung; GfK)

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