Sonntag, 9. August 2009

Der Riese Rik


Leuchtturm "Roter Sand"
© Markus Jastroch

Als wir während unserer Fahrt mit dem Hafenbus am 23. Juli auf dem Rückweg am Zolltor "Roter Sand" vorbeikamen, fragte ich den Reiseleiter, der sich unterwegs als unerschöpfliches wandelndes Geschichtsbuch erwiesen hatte, ob er vielleicht auch wisse, woher das Zolltor seinen Namen habe. Gerüchteweise hatte ich gehört, das hinge mit den ehemals in der Nachbarschaft gelegenen Ziegeleiteichen zusammen. Gebrannte Ziegel sind zwar rot, die für die Herstellung der Ziegel benötigte Tonerde kommt jedoch nur in allen Schattierungen von Braun vor, so dass ich diese Erklärung nicht für sehr glaubhaft halte. Der Reiseleiter verwies auf die Geschichte vom Riesen Rik, die sich jedoch nicht auf die Umgebung des Zolltors "Roter Sand" bezieht, sondern auf eine Sandbank gleichen Namens in der Außenweser.

Mit meinen Recherchen zur Herkunft des Namens des Zolltors bin ich noch nicht weitergekommen, aber hier ist schon mal eine Nacherzählung der Geschichte über den Riesen:


Der Riese Rik

An der Unterweser erzählen sich die Leute eine uralte Sage. Dort lebte einst vor langer Zeit der Riese Rik. Er war ein sehr gefräßiger Riese, der ein großes Netz besaß. Um seinen beständigen Hunger zu stillen, watete er damit in den verschiedenen Flussarmen der Weser umher, um Fische zu fangen. Auch Seehunde, die in großen Gruppen auf den Sandbänken in der Sonne dösten, gingen ihm ins Netz, und während der Brutzeit sammelte er die Eier der Seevögel.

Der Riese Rik wohnte in einer Burg, die er aus Findlingen erbaut hatte, und die einmal irgendwo zwischen der Geestemündung und Weddewarden mitten im Weserstrom gelegen haben soll. Wenn die Fischer, die in den stromaufwärts an den Ufern der Weser gelegenen Fischerdörfern wohnten, mit ihren Booten in den Fanggründen bei Helgoland fischen wollten, kamen sie auf ihrer Fahrt zum Meer unweigerlich an der Burg des Riesen vorbei.

In den Sagen der Völker wird ja oft von bösartigen Riesen berichtet, die kleine Kinder oder Jungfrauen fressen, bis edle Ritter ihrem Unwesen endlich ein schmachvolles Ende bereiten. Der Riese Rik war jedoch ein gutmütiger Kerl. Sein einziges Interesse galt der Pflege seines besonders umfangreichen Bauches. Deshalb hatte er mit den Fischern einen Pakt geschlossen. Wenn sie weserabwärts fahrend auf ihrem Weg in die Nordsee an seiner Burg vorbei kamen, mussten sie ihm Zoll in Form einer Wurst zahlen. Auf der Rückfahrt in ihre stromaufwärts gelegenen Fischerdörfer verlangte er für die Passage einige der gefangenen Fische, deren Anzahl je nach dem Ergebnis ihrer Fangfahrt größer oder kleiner ausfallen konnte. Damit konnten alle gut leben. Die Fischer und ihre Familien brauchten keine Angst vor dem Riesen zu haben, und Rik brauchte sich keine Sorgen darum machen, dass der Umfang seines riesigen Bauches schrumpfen könnte.

Eines Tages im Frühjahr bemerkte der Riese Rik, dass die Strömung in der Weser zunahm und mehr Wasser als gewöhnlich an seiner Burg vorbeifloss. Er dachte jedoch nur an seine nächste Mahlzeit und machte sich über das Wasser der Weser keine weiteren Gedanken. Die Frühjahrssonne brachte auch in diesem Jahr wieder die Schneemengen des Winters zum Schmelzen, und wie in jedem Jahr trieben auch in diesem Frühjahr große Eisschollen weserabwärts an seiner Burg vorbei.

Eines Nachts verschlechterte sich das Wetter rapide, und als der Riese Rik tief und fest schlief, schwoll der Fluss plötzlich mächtig an. In dieser Nacht hatte nämlich die Weser bei der heutigen Porta Westfalica das Wiehengebirge durchbrochen. Zu allem Unglück blies auch noch der Südoststurm immer stärker und beschleunigte die auf die Burg in der Weser zuströmenden gewaltigen Wassermassen der Weser noch erheblich.

Der Riese Rik schlief derweil friedlich in seinem Bett auf seiner Burg mitten im Weserstrom und träumte von Würsten und Fischen, die unablässig in seinen riesigen geöffneten Mund trieben. Als er endlich erwachte, und er die Gefahr erkannte, war an eine Flucht nicht mehr zu denken. Die gegen die Mauern preschenden Eisschollen ließen seine Burg in der Weser bis in die Grundfesten erbeben und brachten sie endlich zum Einsturz. Verzweifelt stemmte sich Rik mit seinen riesigen Körper gegen den schwellenden Strom. Aber so gewaltig er er auch gegen die Fluten kämpfte: Am Ende konnte selbst der Riese Rik den tobenden Elementen nicht mehr widerstehen. Eine besonders mächtige und scharfe Eisscholle riss den Bauch des Riesen auf, und Ströme seines Blutes ergossen sich weserabwärts. Als das Blut des toten Riesen eine unter Wasser liegende Sandbank erreichte färbte es den Sand rot. Fortan nannten die Fischer, die an den Ufern der Weser lebten, diese Sandbank den "Roten Sand".


Viel später, es war ungefähr zu der Zeit, als die Eltern meiner Großeltern noch lebten, errichteten die Menschen an der Weser auf dieser Sandbank einen Leuchtturm, und nannten ihn "Roter Sand". Über viele Jahre wies er den auf der Weser fahrenden Schiffen den sicheren Weg durch das Fahrwasser, bis der Fluss seine Hauptströmung in einen anderen Weserarm verlagerte und das ehemalige Fahrwasser versandete. Aber noch heute ist der Leuchtturm "Roter Sand" der erste Willkommensgruß für die in die Weser einfahrenden Schiffe.

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