Freitag, 1. Oktober 2010

Gewaltbereite Rentner, Frauen und Kinder?


Nachrichtenüberblick vom 30.09./01.10.2010 (dokuundso1)

Ich war entsetzt, als ich in den Nachrichten hörte und sah, was gestern in Stuttgart vorgefallen ist. Schon seit Wochen demonstriert dort eine große Anzahl von Menschen mit friedlichen Mitteln gegen das sogenannte Projekt "Stuttgart 21" - den Abriss ihres Hauptbahnhofs, der in den Jahren 1914 bis 1928 nach den Plänen von Paul Bonatz (1877-1956) und Friedrich Eugen Scholer (1874-1949) entstand - und das Versenken von mindestens vier Milliarden Euro in einen neuen, unterirdischen Bahnhof. Gestern änderte sich die Lage jedoch dramatisch: Im Verlauf eines Polizeieinsatzes gegen die Demonstranten im Stuttgarter Schlossgarten kam es zu hunderten Verletzten, darunter auch Frauen und Kinder.

Ich war ja nicht dabei, aber ein Reporter des ZDF, der die Eskalation im Schlossgarten mit erlebt hatte, formulierte es so: "Ich glaube, ich kann sagen, das sind Leute wie du und ich. Es sind Frauen und Männer, jung und alt. Ein Soziologe würde sagen, das ist ein Querschnitt durch die ganze Gesellschaft. Man kann nicht sagen, dass irgendeiner aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist. Hier demonstrieren offenbar alle. Und sie demonstrieren bisher friedlich."

Ich kann mir kaum vorstellen, dass Väter, Rentner, Mütter und Kinder, also "Menschen wie du und ich", von denen die meisten bis vor kurzen mit Sicherheit noch nie an einer Demonstration teilgenommen haben, aggressiv gegen die Polizei vorrücken. Was ich jedoch gestern in den Nachrichten zu sehen bekam, war der Einsatz von Wasserwerfern und Reizgas gegen eben diese Menschen, die sich bis zum Abend zu Tausenden im Schlossgarten versammelt hatten, um dagegen zu protestieren, dass der alte Baumbestand, der dem Bau des unterirdischen Bahnhofs im Weg steht, abgeholzt wird.


Bedrohliche Mütter mit ihren Kindern

Und es war Herr Rech (CDU, Baden-Württemberg, Innenminister), der in einem Interview im ZDF "Heute journal" zu sehen und zu hören war, wie er behauptete, der eingangs genannte "Querschnitt durch die ganze Gesellschaft" sei gewaltsam gegen die Polizei vorgegangen, so dass diese sich wiederum genötigt gesehen habe, sich "in Notwehr" mit Wasserwerfern, Reizgas und Schlagstöcken gegen die Demonstranten zu verteidigen. Herr Rech kann nur diese "Leute wie du und ich" gemeint haben, denn von einem dieser gewaltbereiten, sogenannten "Schwarzen Blöcke" war weit und breit nirgends etwas zu sehen.

Darauf hatte auch Frau Gerster (ZDF, Nachrichtensprecherin) Herrn Rech in dem Interview hingewiesen, nachdem dieser gesagt hatte, die Anti-Konfliktteams seien von den Demonstranten abgewiesen worden. Im äußersten Notfall seien dann auch Wasserwerfer erforderlich. Das gelte vor allem dann, wenn eine angemeldete Demonstration in Gewalt ausarte. Mütter, die sich mit ihren Kindern der Polizei in den Weg stellen, müssten dann eben auch mit körperlicher Gewalt weggebracht werden. Er "bedauere" jedoch, dass die Polizei, deren Pflicht es sei, dafür zu sorgen, dass die geplanten Baumaßnahmen stattfinden können, so hart habe durchgreifen müssen.


Gewaltsame Enspannung

Da die Stuttgarter Polizei nach Angaben von Herrn Stump (Polizei Stuttgart, Präsident) bei ihren Angriffen gegen die Demonstranten von mehreren Hundertschaften Polizei aus anderen Bundesländern unterstützt wurde, könnte man den Eindruck gewinnen, er sei der Meinung, es gäbe keine andere Möglichkeit, die Bürger von der Notwendigkeit des Projekts "Stuttgart 21" zu überzeugen, als deren friedliche Demonstration mit brutaler Gewalt aufzulösen. Offensichtlich scheint ihm dabei jedes Mittel Recht zu sein - auch der Einsatz von Gewalt gegen eine angemeldete(!) Demonstration von Schülern. Die hatten dabei die einmalige Gelegenheit, etwas zu lernen, das im Schulunterricht kein Thema ist: Wenn der Druck aus dem Volk gegen die Entscheidungen seiner Vertreter zu stark wird, dann weisen die Volksvertreter das Volk mit brutaler Gewalt in seine Schranken zurück. So züchtet man die nächste Generation gewaltbereiter Demonstranten oder gar Terroristen heran.

In den ZDF-Heute Nachrichten sagte Herr Stump: "Wir gehen davon aus, dass sich die Situation in etwa vier Tagen so entspannt, dass man es mit eigenen Polizeikräften aus Baden-Würtemberg bewältigen kann." Zynischer kann man das wohl kaum noch ausdrücken, und ich fürchte, Herr Stump irrt sich gewaltig. Es ist durchaus möglich, dass die Demonstranten in Stuttgart "in etwa vier Tagen" vor der Staatsgewalt kapitulieren müssen. Die Wut der Stuttgarter gegen die Politik der Landesregierung wird sich aber erst dann langsam entspannen, nachdem diese im nächsten Jahr hoffentlich abgewählt worden ist.


Mein Eindruck:

Da sollen gegen die Mehrheit von zwei Dritteln der Stuttgarter Bevölkerung, gegen die Mehrheit von 54 Prozent der Bevölkerung Baden-Würtembergs (repräsentative Umfrage von Infratest dimap im Auftrag des SWR und der "Stuttgarter Zeitung") sowie vor den Augen einer immer fassungsloseren bundesweiten Öffentlichkeit vor der Landtagswahl in Baden-Würtemberg am 27. März 2011 mit aller Gewalt schnell noch Fakten geschaffen werden. Die politisch Verantwortlichen verfahren dabei frei nach dem Motto: "Ist der Stuttgarter Bahnhof erst abgerissen, der Schloßgarten abgeholzt etc., dann wird das lästige Volk schon einsehen, dass es sinnvoller ist, den Neubau wie geplant durchzuführen, als den abgerissenen Bahnhof wieder aufzubauen und den abgeholzten alten Baumbestand im Stuttgarter Schlossgarten durch Neupflanzungen zu ersetzen.

Bevor noch mehr Schaden für die Demokratie entsteht, sollten die politisch Verantwortlichen zurücktreten und den weiteren Abriss umgehend stoppen. Frau Merkel (CDU, Bundeskanzlerin) hat sie sich eindeutig hinter "Stuttgart 21" gestellt, und den 27. März zum Tag des Volksentscheids über das Projekt erklärt. Dabei vergisst sie allerdings zu erwähnen, dass der Volksentscheid dann wohl nur noch zugunsten der Trümmerwüste fallen könnte, die nach dem Abschluss der Abrissarbeiten zurückbleiben wird. Einen wirklichen Volksentscheid zur Erhaltung des alten Stuttgarter Hauptbahnhofs könnte es nur jetzt geben, wenn die Abriss- und Abholzarbeiten umgehend eingestellt werden würden.

Kein Milliardengrab Stuttgart 21!



(Quellen: ZDF Heute vom 01.10.2010, Tagesschau vom 01.10.2010, SWR vom 01.10.2010 und Kommentare dazu, Der Stuttgarter Hauptbahnhof, Kopfbahnhof-21, Campact)

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