Dienstag, 26. April 2016

Nach dem Super-GAU ist vor dem Super-GAU

Demonstration gegen die "Laufzeitverlängerung" (Berlin, 18.09.2010)
Als ich am 18.09.2010 in Berlin, zusammen mit etwa 100000 anderen Menschen, gegen die "Laufzeitverlängerung" der schwarz-gelben Bundesregierung unter der Leitung von Frau Merkel (CDU, Bundeskanzlerin) auf die Straße ging, mahnte dieses Schild zur Abschaltung aller Atomkraftwerke: "Einmal 'Tschernobyl' reicht!"

Der Super-GAU, der sich am 26. April 1986 im Block 4 der ukrainischen Atomkraftanlage "Tschernobyl" ereignete, lag damals etwa 24 Jahre zurück - beinahe ein viertel Jahrhundert. Bezogen auf ein Menschenleben war das schon eine recht lange Zeit.

Trotz heftiger Kritik aus der Bevölkerung und der Opposition setzten die CDU, die CSU und die FDP die von ihnen vorangetriebene "Laufzeitverlängerung" für die damals noch 17 Atomkraftwerke in Deutschland mit ihrer Mehrheit im Bundestag durch ...


Leider hat "Einmal 'Tschernobyl' ..." nicht gereicht. Nur sechs Monate nach der Demonstration in Berlin und fünf Monate nach dem Beschluss zur Umsetzung der "Laufzeitverlängerung" folgte mit den Kernschmelzen und Explosionen in mehreren Atomreaktoren der japanischen Atomkraftanlage "Fukushima I" der zweite Super-GAU.
  • Wie viele Super-GAUs,
  • wie viele Quadratkilometer radioaktiv kontaminiertes Land und wie viele unbewohnbare Regionen,
  • wie viele Sperrzonen,
  • wie viele Atomflüchtlinge und wie viele Strahlen-Opfer und -Tote

    müssen es noch werden,
    bevor 'es reicht'?


Auch nach dem "Atommoratorium" und dem sogenannten "Atomausstieg" ist die Gefahr in Deutschland noch lange nicht gebannt. Noch immer sind hierzulande acht Atomreaktoren in Betrieb. Und selbst von den Atomkraftwerken, die sich - wie es die Atomkonzerne ausdrücken - im "Nichtleistungsbetrieb" befinden könnte es noch zu Kernschmelzen kommen, da die zuletzt in den Atomreaktoren verwendeten Brennstäbe noch über längere Zeiträume gekühlt werden müssen. Spätestens seit "Fukushima" sollte das jedem bewusst sein (ausgelagerte Brennstäbe im Kühlbecken des einsturzgefährdeten Blocks 4, vorrübergehender Ausfall der Kühlung), der in der Nähe eines "stillgelegten" Atomkraftwerks lebt.

Machen wir uns nichts vor: Solange in Deutschland, in einem unserer Nachbarländer oder sonst irgendwo auf der Welt noch ein Atomkraftwerk in Betrieb ist, schweben wir in ständiger Gefahr. "Tschernobyl" und "Fukushima" haben es gezeigt: Ein atomarer Super-GAU kann sich jederzeit und überall ereignen. Inzwischen ist es keine Frage mehr, "ob" es zum dritten Super-GAU kommen wird, sondern "wann" und "wo". In Anbetracht des fortgeschrittenen Alters der meisten Atommeiler ist eher früher, als später damit zu rechnen.


Fessenheim

Ein unschönes Beispiel dafür ist der GAU, der sich am 09.04.2014 in der 39 Jahre alten französichen Atomkraftanlage "Fessenheim" ereignete, der aber vom Betreiber heruntergespielt und von den französischen Behörden verschwiegen wurde. Dass der GAU nicht als Super-GAU endete ist nur einer spontanen Notmaßnahme des Kraftwerkspersonals und einer guten Portion Glück zu verdanken.

Fest steht, dass wir vor zwei Jahren nur ganz knapp am dritten Super-GAU in einem Atomkraftwerk vorbeigeschrammt sind. Die Atomkraftanlage "Fessenheim" liegt im Elsass, am Rhein, der dort die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland bildet. Bis zur Grenze zur Schweiz sind es nur wenige Kilometer.

Wäre es zur Kernschmelze und zum Super-GAU gekommen, dann hätten Basel, Mühlhausen, Colmar oder Freiburg im Breisgau in oder knapp außerhalb einer akkut zu evakuierenden Sperrzone gelegen. Im Umkreis von 30 km um die Atomkraftanlage leben 930.000 Menschen, im Ballungsraum Basel (Schweiz) 830.000 und im Ballungsraum Straßburg (Frankreich) 770.000 Menschen. Die Schweiz, Liechtenstein, sowie große Teile Frankreichs, Deutschlands, Österreichs - und möglicherweise auch Teile Italiens - wären - je nach Windrichtung und Wetterlage - radioaktiv kontaminiert worden.

Hätten die geschmolzenen Kerne auf die gleiche Weise gekühlt werden müssen, wie in Fukushima, dann hätte nur das Wasser des Rheins zur Verfügung gestanden. Der Fluss wäre bis zu seiner Mündung hochgradig radioaktiv kontaminiert gewesen und auch die Nordsee wäre nicht unverschont geblieben ...


Tihange, Doel

Weiteres Katastrophenpotential bergen die belgischen Atomkraftanlagen "Tihange" und "Doel". Auf der Internetseite der Huffington Post vom 02.04.2016 ist zu lesen, dass die Reaktorwände mittlerweile (Zitat) "unglaubliche 18 cm große Risse" aufweisen. Über diese Risse ist Ende des letzten Jahres viel in den Medien berichtet worden. Trotzdem - und trotz massiver Proteste aus der Bevölkerung, auch der Nachbarländer - hatte die belgische Atomaufsicht im Dezember 2015 grünes Licht für das Wiederanfahren der beiden Pannenmeiler gegeben - nachdem diese zuvor zwanzig Monate lang außer Betrieb gewesen waren.

Nach den Terror-Anschlägen in Brüssel machten die beiden Atomkraftanlagen auch im Zuge der Terrorgefahr Schlagzeilen: Kurz nach den Brüsseler Anschlägen wurden zahlreiche Mitarbeiter der belgischen Atomkraftwerke freigestellt, um die Gefahr eines Terroranschlags in einem der Atomkraftwerke zu verringern. Angenommen, infolge eines Terroranschlags in der Atomkraftanlage "Tihange" wäre es zu einem Super-GAU in unserem Nachbarland gekommen, dann wären auch Teile Deutschlands davon betroffen gewesen: Von "Tihange" bis Aachen sind es gerade einmal siebzig Kilometer ...



Aktionstag rund um das Atomkraftwerk "Grohnde" (Minden, 2013)

Eine ungefähre Ahnung davon, womit im Falle eines Super-GAUs in einem Atomkraftwerk mitten in Deutschland zu rechnen wäre, vermittelten Aktionen zum zweiten "Fukushima"-Jahrestag im Umkreis um das Atomkraftwerk "Grohnde". Entsprechend der im "Atomausstieg" festgelegten Fristen wird "Grohnde" erst im Jahre 2021 stillgelegt werden. Dann wird es - sofern nichts dazwischen kommt - 37 Jahre lang in Betrieb gewesen sein. Zur Erinnerung: Der GAU in der Atomkraftanlage "Fessenheim" ereignete sich 39 Jahre nach der Inbetriebnahme ...


Der dritte Super-GAU mit
Brennelementen "Made in Germany"?


Aber selbst wenn irgendwann das letzte Atomkraftwerk Deutschlands einmal vom Netz geht, wird der Atomaustieg hierzulande noch längst nicht vollzogen sein. Ausgenommen vom "Atomausstieg" à la schwarz-gelb sind nämlich die beiden Atomfabriken in Gronau (Urananreicherungsanlage) und Lingen (Brennelementefabrik). Auch dann werden noch Atomtransporte auf unseren Straßen unterwegs sein, die das in deutschen Seehäfen angelandete radioaktive Rohmaterial für die Weiterverarbeitung zu den beiden Produktionsstandorten bringen. Weitere Atomtransporte sorgen dann dafür, dass die aus dem Uranhexafluorid hergestellten Brennelemente in europäischen Atomkraftwerken oder zur Verschiffung in den Häfen landen, um von dort aus an Atomkraftwerke in aller Welt geliefert zu werden. Dabei ist nicht auszuschließen, dass Brennelemente "Made in Germany" direkt in unserer Nachbarschaft oder sonst irgendwo in der Welt als hochradioaktive Schmelze im havarierten Atomreaktor irgendeines Atomkraftwerks enden und möglicherweise mit dem Fallout aus einer radioaktiven Wolke oder mit importierten Futter- oder Nahrungsmitteln zu uns zurückkommen könnten ...


"Tschernobyl" - 30 Jahre danach ...
   ... Die Atomkatastrophe dauert an


Nachdem - heute vor dreißig Jahren - der Atomreaktor im Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodiert war, wurde die Atomruine in einem "Sarkophag" aus Beton eingeschlossen, um die Umgebung vor der hohen Radioaktivität zu schützen. Der im November 1986 fertiggestellte und aus 7000 Tonnen Stahl und 410000 Kubikmeter Beton bestehende Sarkophag ist seit Jahren marode und droht irgendwann einzustürzen.

Bevor es so weit kommt, soll ein neues "Gehäuse" - das sogenannte "New Safe Containment" (NSC) - fertiggestellt sein, das den "Sarkophag" mit den darin eingeschlossenen radioaktiven Trümmern der Atomruine gegen die Umgebung abschirmen und im Falle des Einsturzes bzw. während der geplanten Abbrucharbeiten vor radioaktivem Staub schützen soll.

Da vorher noch einige Vorarbeiten notwendig waren, verzögerte sich der Baubeginn des NSCs bis Ende 2010. So musste vor allem der alte Sarkophag mit einer Lüftungsanlage ausgestattet werden. Außerdem wurde 2008 eine stützende Stahlkonstruktion an der Westseite des alten Sarkophags errichtet, die 80 Prozent des Dachgewichts trägt.

Die Dimensionen des mobilen Bauwerks sind gigantisch. Das Dach des 162 Meter langen NSC wird von Stahlbögen mit einer Spannweite von 257 Metern getragen, die auf Schienen neben der Atomruine aufgerichtet wurden. Die dafür notwendigen Hubarbeiten wurden im Oktober 2014 abgeschlossen.

Nach seiner Fertigstellung wird das NSC eine Höhe von 108 m aufweisen und 24.860 Tonnen auf die Waage bringen. Am 29. April 2015 wurde auf dem G7-Gipfel bekanntgegeben, dass der Bau des NSC im November 2017 abgeschlossen sein soll. Dann wird es auf den Schienen über die Ruine des havarierten Reaktorblocks gefahren werden. Das ganze soll die Umwelt dann für die nächsten 100 Jahre vor weiteren radioaktiven Kontaminationen schützen.

Die Gesamtkosten des Projektes in Höhe von bisher 935 Millionen Euro übersteigen die Finanzkraft der Ukraine bei weitem. 325 Millionen Euro werden alleine von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung finanziert. Während des G7-Gipfels einigten sich die Teilnehmer auf die Finanzierung weiterer 530 Millionen der 650 Millionen Euro, deren Finanzierung bis dahin noch nicht gesichert war.


  ... Grenzwertüberschreitungen in Deutschland

Aber einmal ganz abgesehen von den sicher irgendwie lösbaren finanziellen Problemen, die im Laufe der geschätzten Lebensdauer des NSC aber mit Sicherheit nicht geringer werden, bleiben die weitaus gravierenderen Probleme mit der langfistigen radioaktiven Kontaminierung weiter Gebiete in den Sperrzonen rings um die Atomruine weiterhin bestehen. Selbst in so weit vom Unglücksort entfernten Gebieten wie Deutschland, werden die Grenzwerte für den Verzehr von Pilzen oder Wild aus Regionen im Süden Deutschlands auch 30 Jahre nach dem Niedergang des Fallouts aus Tschernobyl noch überschritten.

Das "Umweltinstitut München" schreibt dazu auf seiner Internetseite, das ARD-Morgenmagazin habe am 26. September 2014 die hohe Belastung von Wildschweinen in Bayern thematisiert. Dabei sei auch kritisiert worden, dass den Bürgern entsprechende Belastungsdaten aus Datenschutzgründen vorenthalten würden. Das bayerische Umweltministerium habe ein Interview dazu abgelehnt. Offenbar sei es an den Messdaten, die von den Jägern weiter gegeben werden, nicht interessiert - und an einer Veröffentlichung schon gar nicht.

Daraufhin habe das "Umweltinstitut München" Kontakt zu den Jägern aufgenommen und angeboten, die Messdaten zu veröffentlichen. Auch ein engagierter Bürger und ehemaliger Strahlenschutzbeauftragter habe seine Daten zur Verfügung gestellt. Dessen Messdaten sowie die gesammelten Daten von bayerischen Jägern stellt das "Umweltinstitut München" auf seiner Internetseite in einer interaktiven Karte dar.

Im Text dazu heißt es (Zitat):
".. Mehr als 2000 Proben wiesen eine Cäsium-Belastung über dem Grenzwert von 600 Bq/kg auf, 141 Proben überschritten sogar die 10.000er Marke. Zehn Messwerte liegen überhalb von 16.000 Bq/kg, der Spitzenwert liegt bei 27.790 Bq/kg Cäsium. .." 
Da die Skala des privaten Messgerätes des "engagierten Bürgers" nur bis 10.000 Bq/kg reiche, seien in der Karte viele Messwerte mit 10.000 Bq/kg angegeben. Die tatsächlichen Werte könnten daher zum Teil wesentlich höher liegen.


All das lässt erahnen, was Japan mit seiner zerstörten Atomkraftanlage "Fukushima-1" (Dai-ichi) noch bevorsteht ... - und womit wir zu rechnen hätten, sollte es in Deutschland - oder in einem unserer Nachbarländer - zu einem atomaren Super-GAU kommen. Auch die radioaktiven Kontaminationen infolge des Uranabbaus, sowie das unlösbare Problem einer sicheren(!) Lagerung des weiterhin anfallenden hochradioaktiven Atommmülls über Zeiträume von Huntertausenden bis Millionen von Jahren hinweg(!) werden mit dem weiteren Betrieb der Atomkraftwerke von Tag zu Tag größer!

Angesichts der Gefahren und der unabsehbaren Langzeitfolgen, denen wir und unsere Nachkommen durch den verantwortungslosen Weiterbetrieb der Atomkraftwerke auch weiterhin ausgesetzt sind, müssen die weiterhin betriebenen Atomreaktoren so schnell wie möglich stillgelegt werden. 2022 könnte es zu spät dafür sein. Deshalb:

  • Abschalten
    vor dem nächsten Super-GAU!





30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fukushima
  • Tschernobyl
    - Nach dem Super-GAU ist vor dem Super-GAU 



(Quellen: Huffingtonpost vom 02.04.2016, Deutschlandfunk vom 23.03.2016, Weser-Kurier vom 03.03.2016, Umweltinstitut München - Radioaktive Belastung von Waldprodukten, Atomkraftwerke Plag - Uranhexafluorid - UrananreicherungsanlageBrennelementefabrik, kernenergie.de, Wikipedia - New Safe Confinement )

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