Montag, 4. Oktober 2010

Einheit nebenbei und das Recht zu demonstrieren


Eins, zwei, drei, im Sauseschritt,
läuft die Zeit; wir laufen mit.

Wilhelm Busch (in "Julchen", 1877)


Am letzten Wochenende habe ich wieder einmal gemerkt, wie recht der gute Herr Wilhelm Busch damit hatte. So schnell kann ein Wochenende vergehen:

Samstag:
Morgens früh nach Kiel aufgebrochen. Meiner Tochter bei der Wohnungseinrichtung geholfen. Zwischendurch zum Baumarkt und eine Gästematratze besorgt. Wenn man sich nicht auskennt, auf auf der B76 fahrend auf die Ausfahrt Raisdorf wartet, und plötzlich stadtauswärts auch noch in einer einspurigen Straßenbaustelle landet, die von der anderen Seite auf dem Rückweg über eine Umleitung umfahren wird, dann kann man damit schon einige Zeit zubringen ... - Inzwischen weiß ich, dass Raisdorf und Klausdorf sich im März 2008 zur Gemeinde Schwentinental zusammengeschlossen haben - und "Schwentinental" war sogar ausgeschildert ...

Sonntag:
Restarbeiten in der Wohnung, aufräumen, Klamotten zusammenpacken und Rückfahrt nach Bremerhaven.


Von den Feiern zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, die in diesem Jahr auch noch quasi vor meiner Haustür in Bremen stattfanden, habe ich nur nebenbei im Autoradio etwas mitbekommen. Auch wenn erfreulicherweise inzwischen die Mehrheit der Menschen in Deutschland nicht mehr ernsthaft versuchen würde, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, so gibt es doch immer noch genug Menschen, die sich weiterhin als Verlierer der Wiedervereinigung betrachten. Manche der genannten Argumente kann ich sogar nachvollziehen.

Auf jeden Fall dürfen wir, die wir "im Westen" aufgewachsen sind, nicht vergessen, dass sich das Leben für die Menschen, die ihre Kindheit und Jugend "im Osten" erlebten, mit der Wiedervereinigung innerhalb kürzester Zeit radikal änderte.

Es waren die Menschen in Ostdeutschland, die mit ihren beharrlichen Montagsdemonstrationen wesentlich zur Wiedervereinigung beigetragen haben, und es sind die Menschen im Osten der Bundesrepublik, deren Betriebe "abgewickelt" wurden, deren gut organisiertes, nachhaltiges Recycling-System dem "Grünen Punkt" geopfert wurde, die von West-Produkten überschwemmt wurden, während sie ihre ostdeutschen Waren im Westen der Bundesrepublik, bis auf wenige Ausnahmen, nicht los wurden, ... - Und wer war schuld an dem Dilemma? Natürlich nicht die SED und ihre Stasi, die den ostdeutschen Wirtschaftskarren irreperabel in den Dreck gefahren hatten, sondern die "Wessis".

Uns im Westen hatte man verschwiegen, dass die Wiedervereinigung Geld kosten würde. Diejenigen, die das damals zur Sprache brachten, weil sie wussten, wie marode die Bausubstanz, die Straßen und die Infrastruktur in Ostdeutschland nach den Jahrzehnten der SED-Planwirtschaft waren, wurden als Spinner abgetan. Hinterher, als es tatsächlich ans Zahlen ging, war das Geschrei groß und schuld waren nicht Herr Kohl (CDU, ehemaliger Bundeskanzler) und die Politiker der damaligen Bundesregierung, sondern die "Ossis".

Als vor zwanzig Jahren der Jubel groß war, und als es damals hieß: "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.", da haben viele Leute mich verständnislos angesehen, wenn ich die Vermutung äußerte, das der Wachstumsprozess wohl kaum innerhalb von 10 Jahren abgeschlossen sein würde, sondern dass vermutlich erst die Generationen unserer Enkel wirklich in einem vereinten Deutschland leben werden, in dem es keine Unterschiede mehr zwischen "denen im Osten"- und "denen im Westen der Republik" geben wird. Je mehr Zeit ins Land geht, desto mehr habe ich manchmal das Gefühl, als wenn sich meine Vermutung von damals eines Tages bestätigen könnte.

Bezüglich des Freudentaumels vor 20 Jahren auf beiden Seiten der Mauer und des späteren Erwachens in der gesamtdeutschen Realität hat Walther gestern Parallelen zu einem Lied der DDR-Rockband Karussell aus dem November 1989 gezogen, das die damals verdrängten, aber durchaus absehbaren Schwierigkeiten ähnlich realistisch einschätzt, wie ich es tat: "Marie, die Mauer fällt".


Auf der Rückfahrt von Kiel nach Bremerhaven erfuhr ich am Sonntag Abend in den Nachrichten dann noch, dass Herr Grube (Deutsche Bahn, Bahnchef) am Tag der Deutschen Einheit die Meinung vertrat, die Demonstranten, die in Stuttgart gegen den Abriss des Hauptbahnhof und die Baumfällaktion im Stuttgarter Schlossgarten protestieren, hätten kein Recht dazu. Die Antwort der Gegner des Projekts "Stuttgart 21" ließ nicht lange auf sich warten:

"Über dieses Recht bestimmt immer noch das Grundgesetz und nicht der Bahnchef."

Mit diesern Worten kommentierte Herr Stocker (Bürgerinitiative gegen Stuttgart 21) die Äußerung Herrn Grubes. Das sei Demokratie aus Sicht eines Industriellen. Verwundert sei er allerdings nicht darüber. Er sei von Herrn Grube schon alles gewohnt.

Herr Wieland (BUND, Regionalvorsitzender) stellte klar: "Es gibt ein Demonstrationsrecht und ein freies Recht auf Meinungsäußerung." Herr Bonde (Bündnis 90 /Die Grünen, Haushalts-Sprecher im Bundestag) bezog sich mit seiner Kritik an Herrn Grube mit dessen eigenem Standpunkt: "Wenn Bahnchef Grube verkündet, nur das Parlament und sonst niemand habe bei uns zu entscheiden, dann muss er endlich selber das Parlament ernst nehmen." Trotz mehrfacher Aufforderung verweigere Grube den Abgeordneten die Einsicht in entscheidungsrelevante Wirtschaftlichkeits- und Kostenstudien für Stuttgart 21 und andere Projekte.

Passend zu beiden Themen:
Wilfrid Schmickler's "Einheitsdeutscher"
(Podcast des WDR2)


(Quellen: SWR vom 03.10.2010 und vom 04.10.2010, TAZ vom 03.10.2010)

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