Montag, 25. April 2011

1986 - Strahlend helle Tage im April


Michail Nazarenko - "Ghost Town" (Musik: Huns and Dr. Beeker)

Die Ukrainerin Elena Filatova betreibt eine private Internetseite, auf der sie von ihrer Liebe zum Motorradfahren und über die Folgen des Super-GAUs im 130 Kilometer von ihrem Wohnort enfernt gelegenen Atomkraftwerk "Tschernobyl" schreibt. Sie zeigt dort auch Fotos aus der "toten Zone", aus der "Geisterstadt" Prypjat, dem "Land der Wölfe" oder aus "Plutos Reich".

In dem hier eingebundenen Video von Michail Nazarenko sind einige ihrer Aufnahmen zu sehen. Elena Filatova schreibt über das Video und das darin zu hörende Lied: "Das Lied ist von "Hans und Dr. Beeker". Der Autor dieses einzigartigen Videos von der Evakuierung der Stadt Pripyat ist Michail Nazarenko. Er starb wenige Jahre nach dem Unfall." Im Nachwort zu den Abschnitten "Geisterstadt" und "Land der Wölfe" schreibt sie dann noch, Michail Nazarenko sei gerade dabei gewesen, einen Film über Atomkraftwerke zu drehen und sei zur Zeit des Super-GAUs zufällig gerade in Pripjat gewesen.


Forsmark 1986: Erhöhte radioaktive Strahlung

Nachdem am 28. April 1986 in einem Umkreis von vier Kilometern um das nördlich von Stockholm gelegene Atomkraftwerk "Forsmark" herum erhöhte radioaktive Strahlung gemessen worden war, ging man von einem unbekannten Problem in der Anlage aus und räumte das Gelände. Am Nachmittag dieses Tages meldete die Nachrichtenagentur afp, in der Umgebung des südschwedischen Atomkraftwerks "Barsebäck" sei erhöhte Radioaktivität festgestellt worden.

Erst am Abend des 28. April 1986 sendete die amtliche Nachrichtenagentur TASS der Sowjetunion eine knappe Meldung über die bereits zwei Tage zurückliegende Explosion im Atomkraftwerk "Tschernobyl" ...


Pripjat

Die Einwohner der nahe des Atomkraftwerks gelegenen Stadt Pripjat erlebten den 26. April 1986 als einen schönen Samstag im Frühling. Die Kinder gingen zur Schule. Die Menschen fuhren ins Grüne oder zum Baden. Dem einen oder anderem kam zwar das Gerücht zu Ohren, im Atomkraftwerk habe sich ein Unfall ereignet, aber von den Verantwortlichen der Stadt waren keinerlei beunruhigende Mitteilungen zu hören. Sie hatten Anweisungen, Normalität zu demonstrieren ... - an diesem Tag war es nicht nur die Sonne, die hell vom Frühlingshimmel strahlte ...


Tschernobyl

Währenddessen versuchten die Feuerwehrleute im Atomkraftwerk, die Brände zu löschen. Da sie dabei keine geeignete Schutzkleidung trugen, wurden sie so sehr verstrahlt, dass sie bald darauf starben ...

Infolge eines Experiments im Block 4 des sowjetischen Atomkraftwerks "Tschernobyl" war in den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 der Reaktor außer Kontrolle geraten. Nachdem eine manuelle Notabschaltung fehlgeschlagen war, hatte eine Explosion die 1200 Tonnen schwere Platte des Reaktors weggesprengt und der brennende radioaktive Inhalt des Atomreaktors war herausgeschleudert worden. Obwohl überall Bruchstücke des hochradioaktiven Reaktorinhalts herumlagen, hatte der Schichtleiter um 04:30 Uhr noch der Kraftwerksleitung gemeldet, der Atomreaktor habe bei der Explosion keinen Schaden genommen.


Europa und die Welt

Rauch und Dampf trugen eine Wolke aus radioaktiven Partikeln hoch in die Atmosphäre. Die Wolke breitete sich über den Westen der Sowjetunion aus und zog weiter in Richtung Mitteleuropa. Wind und Wetter sorgten an den folgenden Tagen dafür, dass die radioaktive Wolke sich über die ganze nördliche Erdhalbkugel ausbreiten konnte, wobei der radioaktive Fallout die überzogenen Gebiete mit insgesamt rund dem zweihundertfachen der Radioaktivität kontaminiert, die bei der Explosion der Atombombe über Hiroshima freigesetzt worden war.


Bremerhaven

Auch in Bremerhaven war der 26. April ein schöner Frühlingstag. Nach dem langen Winter hatten wir das gute Wetter dieser ersten warmen Frühlingstage genutzt, um die Segelyacht meines Freundes wieder seeklar zu machen. Dabei hatten wir uns natürlich während der ganzen Zeit im Freien aufgehalten. Als wir dann einige Tage später im Radio die ersten Meldungen über eine mögliche Havarie in einem schwedischen Atomkraftwerk hörten, waren wir zuerst einmal alle sprachlos. Da wir alle Mitglied in der Bremerhavener Kontaktgruppe von "Greenpeace" Deutschland waren, war uns sofort bewusst, dass - je nach schwere des vermuteten Unfalls - auch wir in Deutschland von dem Fallout einer möglichen radioaktiven Wolke betroffen sein könnten. An oberster Stelle stand jedoch die Sorge um die Menschen in Schweden, die in der Umgebung des vermeintlichen Unglücksreaktors wohnten.

Abends, nachdem ich am 29. April 1986 in der Tagesschau gehört hatte, die in Schweden gemessene Radioaktivität sei vermutlich auf die Explosion des sowjetischen Atomkraftwerks "Tschernobyl" zurückzuführen, begann ich langsam zu ahnen, was da noch auf viele Regionen der Welt zukommen könnte: Wenn in Schweden noch eine so hohe Radioaktivität gemessen worden war, dass man dort von einer Havarie in einem schwedischen Atomkraftwerk ausgegangen war, wie schlimm musste es dann erst im ca. 1400 Kilometer davon entfernten Atomkraftwerk "Tschernobyl" aussehen. Und niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob nicht vielleicht auch über Deutschland schon radioaktive Partikel heruntergekommen waren.

Und noch eines wurde mir damals siedend heiß bewusst: In "Tschernobyl" hatte sich genau der Super-GAU ereignet, von dem die Statistiker immer gesagt hatten, er würde sich vielleicht ein Mal in 100000 Jahren ereignen. Und es war genau der Super-GAU vor dem wir immer gewarnt hatten. Unter anderem dafür waren wir damals immer als "Grüne Spinner" belächelt worden. Ein Super-GAU in einem Atomkraftwerk käme ja schließlich nur alle 100000 Jahre vielleicht mal vor ... - nur dass dieser Super-GAU nun gerade nicht so lange gewartet hatte, bis diese Zeit abgelaufen sein würde.

Noch einmal zwei Tage später, am 30. April 1986, wurde im Raum München in Bodennähe erhöhte Radioaktivität gemessen. Der Super-GAU war in Deutschland angekommen.


Beklemmende Angst

Damals hatte ich beruflich mit einem Luftimmissionsmesswagen im Bremen zu tun. Dabei fuhr ich nach einem für ein bestimmtes Messgebiet festgelegten Plan Messpunkte im Stadtgebiet an, umd entnahm dort jeweils während einer halben Stunde Proben aus der Luft, die im Messwagen mithilfe von Messgeräten auf die Konzentration bestimmter Luftschadstoffe analysiert wurden. Da auf dem Messwagen deutlich die Worte "Luftmesswagen" und "Anerkannte Messstelle" zu lesen waren, wurde ich des öfteren von besorgten Passanten angesprochen. Sie dachten, der Messwagen würde dort wegen des radioaktiven Fallouts aus "Tschernobyl" stehen.

Ich hätte den Menschen zwar jede Menge über Stickoxide, Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid oder gasförmige Kohlenwasserstoffe erzählen können, aber der Fachmann für die Messung von Radioaktivität war ich damals ja nun auch nicht gerade. Ich habe mit den Leuten deshalb mein Wissen geteilt, das ich mir im Laufe meiner Greenpeace-Arbeit über die sogenannte friedliche Nutzung der Atomkraft angeeignet hatte. Über die damals aktuelle Lage konnte ich ihnen jedoch auch nicht viel mehr erzählen, als das, was ohnehin jeder von uns täglich in den Medien lesen, hören und sehen konnte.

Was nach diesen Gesprächen immer blieb, wenn die Menschen, mit denen ich mich gerade unterhalten hatte, weitergegangen waren, das war so etwas wie ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Ich hatte damals zwar schon erheblich mehr Kenntnisse als die meisten meiner Mitmenschen bezüglich der Folgen radioaktiver Kontamination, Halbwertszeiten unterschiedlicher Radionuklide im Bereich von Stunden bis hin zu Jahrmillionen etc., aber ich hatte immer auch das Gefühl, dass man uns seitens der Regierung nicht die ganze Wahrheit sagte. In diesen Gesprächen mit wildfremden Menschen, die aufgrund ihres geringeren Wissens die Situation noch schlechter einschätzen konnten als ich, habe ich damals oft erfahren, welche beklemmende Angst sie vor einer ungewissen strahlenden Zukunft hatten.

Während die meisten meiner Mitmenschen aber ihre Ängste mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Super-GAU im Atomkraftwerk "Tschernobyl" mehr oder weniger erfolgreich verdrängten, habe ich das Wissen um die atomare Bedrohung nie ablegen können oder wollen. Ich denke, nur wenn man sich einer drohenden Gefahr und ihrer möglichen Folgen bewusst ist, hat man eine Chance, etwas dagegen unternehmen zu können. Genau deshalb wehre ich mich zusammen mit zigtausenden anderer Menschen aktiv gegen die Atompolitik der schwarz-gelben Bundesregierung, indem ich meinen Protest gemeinsam mit ihnen wieder auf die Straße trage.


Russland, 24 Jahre danach

Am 12. August 2010 gaben die russischen Behörden erstmals zu, dass die zu diesem Zeitpunkt bereits seit Wochen wütenden schweren Wald- und Torfbrände in Russland auch die seit dem Super-GAU in Tschernobyl radioaktiv verseuchten Gebiete im Westen Russlands erfasst und radioaktiven Staub aufgewirbelt hatten. In Deutschland hieß es dazu: "Kein Grund zur Beunruhigung." Der Rauch mit den radioaktiven Partikeln steige nicht so hoch auf, wie die von der Explosion emporgeschleuderte Wolke, so dass der Fallout den Boden erreiche, bevor er russisches Gebiet verlassen habe.

Das mochte ja so gewesen sein - für die davon betroffenen Menschen in Russland war das aber ein schwacher Trost. Dort hieß es seitens der russischen Behörden, der Regen habe eine Teil der radioaktiven Partikel inzwischen in tiefere Bodenschichten gespült. Von den Bränden werde daher nur ein Bruchteil des damals niedergegangenen Fallouts aufgewirbelt. Was man den Menschen in den vom Dunst der Rauchschwaden verhüllten Gebiete jedoch verschwieg, das waren die von den Bäumen aufgenommenen und im Holz gebundenen radioaktiven Partikel, die durch die Brände wieder freigesetzt wurden, und auch die unterirdischen Torfbrände werden wohl zumindest einen Teil der radioaktiven Substanzen, die sich dort unten im Laufe der Zeit angesammelt hatten, wieder zu Tage befördert haben.


25 Jahre nach "Tschernobyl"

Auch heute noch warnt das Bundesamt für Strahlenschutz davor, Pilze oder das Fleisch von Wildtieren aus bestimmten Regionen Deutschlands zu verzehren und in Wales sind manche Weiden so sehr mit Cäsium-137 kontaminiert dass es verboten ist, das Fleisch der darauf weidenden Schafe zu essen. Trotz all dieser Erfahrungen, trotz allem, was der Bevölkerung in der heutigen Ukraine infolge des Super-GAUs im Jahre 1986 widerfahren ist, haben die Verantwortlichen nichts dazugelernt.

Wäre es anders gewesen, dann wären die Atomkraftwerke in den erdbebengefährderten Gebieten der Welt schon vor langer Zeit stillgelegt worden. Niemals wäre es dann in Japan nach dem schweren Erdbeben und dem verheerenden Tsunami vom 11. März 2011 auch noch zu dem Super-GAU in der Atomkraftanlage "Fukushima I" gekommen.

Deshalb müssen alle Atomkraftwerke so schnell wie möglich stillgelegt werden: Weltweit! Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich der nächste Super-GAU ereignen wird. Die Erfahrung zeigt uns: Schon Morgen könnte es soweit sein - und möglicherweise mitten in Deutschland.


Zum Weiterlesen

25  Jahre  Tschernobyl


(Quellen: 25 Jahre Tschernobyl, contrAtom vom 22.04.2011, Welt vom 18.03.2011, Süddeutsche Zeitung vom 11.08.2010, Unsere strahelnde Zukunft)

1 Kommentar:

Elfe hat gesagt…

Hallo Juwi

Vielen Dank für diesen interessanten und informativen Beitrag zum 25. Jahrestag nach Tschernobyl. Ich habe mir erlaubt ihn zu verlinken, einen kleinen Beitrag habe ich auch dazu geschrieben mit meinen Erinnerungen von damals.
Liebe Grüsse in Deinen Tag und guten Wochenstart
Elfe

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