Sonntag, 16. Oktober 2011

Was kostet ein Leben?

Blog Action Day Oct 16, 2011 (#BAD11)

Bei uns in Deutschland haben wir zu wenig Zeit - zu wenig Zeit, über den Hunger in der Welt nachzudenken. Vielen ist dieses Thema ohnehin eher lästig, zu unbequem. Außerdem spendet man ja. Das beruhigt das Gewissen ...

Bei uns haben viele Menschen oft nicht einmal Zeit zum Essen. Wenn dann der kleine Hunger kommt, dann stecken wir ihm irgendeinen Snack in den Rachen. Das geht schnell mal so zwischendurch - auf dem Weg von A nach B, von einem Termin zum nächsten.

Irgendwo auf einem dieser Wege findet sich immer ein Schnellimbis. Manchmal reicht die Zeit gerade noch für ein halbes Hähnchen im Stehen. Wenn die Zeit selbst dafür nicht ausreicht, dann dann findet sich bestimmt irgendwo ein Fischbrötchen oder ein Hamburger für unterwegs - im Gehen. Das kostet nur wenige Euro und der kleine Hunger hält erst einmal wieder seine Klappe.


Keine Zeit zum Nachdenken

Wer denkt dabei schon darüber nach, dass der Fisch zwischen den Brötchenhälften für zwei Euro einmal irgendwo im Meer gelebt hat ... - zusammen im Schwarm mit seinen Artgenossen, weit entfernt vom Festland und somit unerreichbar für für den kleinen Hunger auf seinem Weg von A nach B? Wer macht sich Gedanken darüber, dass jeder Hamburger, den man im Vorbeigehen für einen Euro erstanden hat und der zwischen zwei Terminen schnell zwischen unseren Kiefern verschwunden ist, ein kleines Stück aus dem Körper eines jener Rinder ist, die Tag für Tag tausendfach von emotionslosen Arbeitern im Fließbandbetrieb unserer Schlachthöfe umgebracht werden?

Was kostet ein Leben?


À propos Fisch: Im Zusammenhang mit den unzähligen kleinen, Hamburger mapfenden Menschen, die täglich zu zigtausenden kleine Stücke diesen großen Kühe in sich hineinstopfen, drängt sich mir das Bild von den vielen kleinen Piranhas auf, die einen Menschen, der zu falschen Zeitpunkt am falschen Ort ein Bad einem der Flüsse Südamerikas nimmt, innerhalb weniger Minuten bis auf die Knochen verschlungen haben. Wenn die niedlichen Rinder, die friedlich auf den saftigen Weiden der Fernsehwerbung grasen, wüssten, was sie nach dem Ende ihres viel zu kurzen Lebens in den Mastbetrieben erwartet, dann würden sie uns gegenüber mit Sicherhet ähnliche Gefühle entwickeln, wie diejenigen, die gerade eben in unserer Vorstellung im Zusammenhang mit dem Bild mit dem fressgierigen Piranha-Schwarm entstanden sind.


Mangel im Überfluss

Im September 2009 war in der Bremerhavener Pauluskirche die Ausstellung "Wir haben den Hunger satt" zu sehen. Auf einer der Stelltafeln hieß es, seit Beginn der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts würden weltweit so viele Nahrungsmittel produziert werden, dass damit alle Menschen dieser Welt ausreichend mit Nahrung versorgt und gesund ernährt werden könnten.

... könnten. - Aber die Realität sieht anders aus: Etwa so, wie zur Zeit in den Ländern am Horn von Afrika ... -oder wie in Nordkorea ... - oder wie in vielen weiteren Ländern überall auf der Welt.

In Deutschland und Europa bedienen wir uns aus den Regalen der Supermärkte und Discounter ausschließlich mit den Lebensmitteln, auf deren Verpackung das Mindesthaltbarkeitsdatum mit der längsten Frist aufgedruckt ist. Den Rest meiden wir, als könnten wir uns daran vergiften, wenn wir damit auch nur in Berührung kämen. Schon einige Tage vor Ablauf des Datums, bis zu dem die Hersteller für die Haltbarkeit ihrer Lebensmittel garantieren, werden diese wieder aus den Regalen entfernt und entsorgt.

Im ersten Kapitel der östereichischen Dokumentarfilms "We feed the World" ist zu sehen, dass in Wien Tag für Tag genau die gleiche Menge Brot vernichtet wird, wie die Menschen in Graz verbrauchen. Immer, wenn ich diese Szene in "We feed the World" sehe erinnere ich mich an die Zeit, als ich vor vielen Jahren selbst einmal - in einem Abfall-Container inmitten frisch aus den Regalen entfernter Brote stehend - einwandfreie Brote in unbeschädigten Verpackungen mit mehreren Tagen bis zum Ablauf des aufgedruckten Mindesthaltbarkeitsdatum für den Verkauf in einem Laden eines Freundes aussortiert und in seinen Lieferwagen geladen hatte (wer mehr darüber erfahren möchte, bitte hier weiterlesen ...).

Hätten wir mehr Zeit, dann käme uns beim Anblick der Bilder im Fernsehen aus Kenia, Äthiopien oder Somalia vielleicht die Frage in den Sinn, was die Verhungernden dort über uns denken würden, wenn sie wüssten, wie gedankenlos bei uns Lebensmittel ausschließlich für den Müll produziert werden. Würden die Menschen dort die zahlreichen Lkw-Ladungen voller Brote sehen, die bei uns täglich zu den Mülldeponien oder -verbrennungsanlagen gekarrt werden, dann möchte ich lieber nicht wissen, was sie mit einem der Lkw-Fahrer oder einem Arbeiter in einer Müllverbrennungsanlage anstellen würden, wenn sie die Chance hätten, ihn zu fassen zu bekommen.

Weltweit sterben täglich zigtausende Menschen nur deshalb, weil sie nicht genug zum Essen haben. Dreiviertel unter ihnen sind Kinder im Alter von nicht einmal fünf Jahren. Ihre kleinen Körper, die eigentlich wachsen wollten, haben dem Hunger am wenigsten entgegen zu setzen. Und mit den Kindern verhungert unsere Zukunft.

Im Film "We feed the World" heißt es an einer Stelle, dass im Jahre 2000 sechs Milliarden Menschen auf der Welt lebten. Die zu dieser zeit produzierten Nahrungsmittel hätten ausgereicht, um zwölf Milliarden Menschen zu ernähren. Gleichzeitig seien in den Ländern der sogenannten "Ersten Welt" Unmengen an Lebensmitteln unter großem Energie- und Kostenaufwand vernichtet worden.

Was kostet ein Brot: Ein bis drei Euro?
Was kostet ein Leben?


Wer jetzt meint, das alles sei ja viel zu weit weg von seiner heilen Welt, der kann gerne auch einmal einen Blick auf Deutschland werfen. Die Berliner Morgenpost machte gestern zum Beispiel darauf aufmerksam, dass auch hierzulande schätzungsweise rund 500000 Kinder an jedem Tag Hunger leiden, während gleichzeitig jährlich bis zu 20 Millionen Tonnen Nahrungsmittel auf dem Müll landen - das sind täglich rund 54800 Tonnen!

Ist das immer noch zu weit weg? Wie wär's mit einem Blick in die Nachbarschaft? Wenn ich frühmorgens mit unserer Hündin Cleo unterwegs bin, dann bemerke ich hin und wieder Menschen, die in den öffentlichen Mülleimern nach verwertbarem suchen. Manchmal ist auch etwas dabei, was ihnen noch essbar erscheinen mag. Das ist mir einmal aufgefallen, als ich sah, wie die Hand aus dem Mülleimer kommend nicht in der Plastiktüte verschwand, sondern sich in Richtung Mund bewegte.

Bezeichnend für die zunehmende Armut in unserer Gesellschaft finde ich auch, dass immer mehr Menschen für ihre Ernährung auf die Hilfe ehrenamtlich organisierter "Tafeln" sozialer Netzwerke angewiesen sind, weil das ihnen zur Verfügung stehende Geld sonst hinten und vorne nicht reichen würde. Dabei geben die Menschen in Deutschland, wie ich gestern Abend in den ZDF-Heute Nachrichten gehört habe, nur siebzehn Prozent ihres Einkommens für ihre Ernährung aus. Aber diese Zahl wird wohl eher relativ zu sehen sein. Die Lebensgrundlage von Hartz-IV Abhängigen ist sicherlich eine andere Realität mit anderen Proportionen, als diejenige der Politiker die mithilfe ihrer Sparprogramme auch noch das letzte aus denen herauszupressen versuchen, denen ohnehin schon gerade noch das nötigste zum Leben bleibt.


Unsere Verschwendung
ruiniert die Landwirtschaft in Afrika


Hartz-IV Abhängige haben zwar viel Zeit, müssen dafür jedoch bei der Ernährung Abstriche machen. Aber noch einmal zurück zu denen, die sich das Essen noch leisten können, dafür aber nie Zeit haben. Neben den bereits erwähnten halben Hähnchen aus dem Schnellimbis unterwegs, greifen sie in wachsendem Maße auch bei diesen kleinen handlichen "Chicken-Snacks" für unterwegs zu, und anstelle kompletter Hähnchen finden sich auch in den Gefriertruhen der Supermärkte und Discounter vermehrt nur die "guten" Teile von den Hühnern.

Ein großer Teil der restlichen Geflügelteile landet dann als Billig-Exportware auf den Märkten Afrikas. So kostete etwa im Jahre 2004 in Ghana ein Kilo Hühnerfleisch umgerechnet 1,50 Euro. Der Export der Reststoffe aus der Hühnerbrust-Produktion in den Industrienationen zerstört in den Ländern Afrikas einen ganzen Wirtschaftszweig. Im September 2010 zeigte "3sat" die Dokumentation "HühnerWahnsinn - Das eiskalte Geschäft mit dem Geflügel". Darin heißt es, viele Menschen hätten in Ghana früher von der Futtermittelherstellung, von ihren Hühnerfarmen, vom Handel oder vom Schlachten und Rupfen gelebt. Seit der Importschwemme sei das Geschäft vollkommen zusammengebrochen.

Wenn die Menschen in afrikanischen Ländern um ihr Einkommen gebracht werden, dann breitet sich dort die Armut aus. Wenn es kein einheimisches Geflügel mehr gibt, dann werden die Menschen dort abhängig von den Importen aus den Industrienationen. Das ist eines von vielen anderen Beispielen dafür, wie unser Überfluss direkt für Mangel und Armut in Schwellen- und Entwicklungsländern verantwortlich ist.

Kühltruhen sind in den betroffenen afrikanischen Ländern keine Selbstverständlichkeit. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Ende der neunziger Jahre bei Kontrollen in Kamerun festgestellt wurde, dass von 200 Tiefkühlhähnchen-Stichproben 85 Prozent des Fleisches nicht mehr zum menschlichen Verzehr geeignet waren. Auch wenn der vom Internationalen Währungsfond (IWF) und der EU geförderte Wahnsinn vielleicht noch keine zusätzlichen Hungertoten in den betroffenen Ländern zur Folge hat, so lassen sich die gesundheitlichen Folgen für die am Verzehr von verdorbenem Hähnchen erkrankten Menschen nicht wegdiskutieren.

Interessiert es uns, ob die Landwirtschaft in Afrika funktioniert oder nicht? Den industriellen Geflügelproduzenten in den Ländern der sogenannten "Ersten Welt" ist das jedenfalls sch..egal. Die sind nur an der Maximierung ihrer Gewinne interessiert. Und wenn deren Absatz in Ghana gefährdet sein könnte, dann übt der IWF auch schon mal Druck auf die Regierung Ghanas aus. Und schon ist die Welt wieder in Unordnung.

Was sind uns Leben und Gesundheit eines Menschen wert?
Der Verzicht auf eine Portion Chicken-Snacks für zwei Euro?



Heute ist "Welternährungstag"

Am 16. Oktober 1945 wurde die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO als Sonderorganisation der UNO gegründet. Sie hat die Aufgabe, die weltweite Ernährung sicherzustellen. In Anlehnung an das Gründungsdatum der FAO wurde am 16. Oktober 1979 der "Welternährungstag" (World Food Day) eingeführt, der darauf aufmerksam machen soll, dass weltweit über eine Milliarde Menschen an Hunger leiden. Solange er darauf aber nur aufmerksam macht, sollte der Welternährungstag eigentlich besser Welthungertag heißen.

Außerdem findet heute auch wieder der alljährliche "Blog Action Day" (BAD) statt. Unter dem Motto "Let's talk about food" nimmt sich Der "#BAD11" ebenfalls des Themas an.


  • "Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen ..."
    - Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 25 -

  • "... Deshalb müssen Hunger und Unterernährung zunehmend als Verletzung des Menschenrechts auf Nahrung betrachtet werden, die Menschen - vorwiegend in der Dritten Welt - durch wirtschaftliches oder politisches Handeln zugefügt werden."
    - Welthaus -

  • "Der Berg weggeworfener Lebensmittel in Europa wird immer größer – und damit auch die Belastung für Umwelt und Klima und natürlich auch den privaten Geldbeutel."
    - Ilse Aigner (CSU, Bundesverbraucherministerin) in der Berliner Morgenpost -

  • "Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren.
    Ein Kind, das an Hunger stirbt, heute, wird ermordet."

    - Jean Ziegler in "We feed the world" -


Was ist uns ein Menschenleben wert?



(Quellen: Berliner Morgenpost vom 15.10.2011, Süddeutsche Zeitung vom 26.07.2011, Welthaus, Essen global, 3sat - Hühnerwahnsinn, Wikipedia - Welternährungstag)

1 Kommentar:

april hat gesagt…

Den Tag habe ich verpasst ... Die Frage bei alledem ist: wie bringt man das rüber? Ein paar kritische Menschen hier in den Blogs sehen das so wie du, aber die Masse nicht. ... Am Freitag im Supermarkt waren gerade ganz viele Schüler (frei oder Pause?) und die kauften alle Cola und Chips u.ä. Von bewusster Ernährung keine Spur. Sowas sollte in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen werden, aber das ist wohl nicht im Interesse derer, die das Sagen haben.
LG, Ingrid aus Köln

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