Donnerstag, 18. Februar 2010

Schlechter Stil

Die FDP ist in den ersten 100 Tagen ihrer Regierungsbeteiligung in der Wählergunst regelrecht abgestürtzt. Im Mittel der Umfrageergebnisse von "ZDF Politbarometer" (04.02.2010) und "ARD Deutschlandtrend" (29.01.2010) liegt die FDP nur noch bei 8,5 Prozent. Das entspricht 58,2 Prozent ihres Wahlergebnisses bei der Bundestagswahl (14,6 Prozent).

Das könnte sich natürlich wieder ändern. Aber ihr Bundesvorsitzender, Herr Westerwelle, scheint da weniger Hoffnung zu haben. Deshalb versucht er jetzt mit Rundum-Tiefschlägen unter die Gürtellinie von dieser Entwicklung abzulenken, indem er unter anderem auf den Schwächsten in unserer Gesellschaft herumhackt. Er stellt dafür alle Arbeitslosen und Hartz-IV Empfänger in die Ecke der Drückeberger und Abstauber. Unter diesen "Drückebergern" sind unter anderem auch ehemalige Mitarbeiter von Firmen wie Nokia, Quelle etc., die schließen mussten oder ihre Firmensitze ins Ausland verlegt haben. Das sind Menschen aus der "Mittelschicht", die von einem Tag auf den nächsten unverschuldet ohne Einkommen dastehen, und die innerhalb kürzester Zeit in der immer größeren Masse der "Unterschicht" verschwinden.

Ich kann nicht belegen, wie hoch der Anteil der wirklich Arbeitsunwilligen unter den Arbeitslosen ist. Ich bin aber davon überzeugt, dass es sich bei ihnen um eine Minderheit handelt, und dass Herr Westerwelle, ebenfalls nicht belegen kann, wie hoch deren Anzahl wirklich ist. Er hat offensichtlich noch nicht registriert, dass nicht die Hohe Zahl der Arbeitslosen das Problem ist, sondern die geringe Zahl offener Arbeitsstellen, von denen viele nicht einmal gut genug bezahlt werden, um davon leben zu können. Herr Beninde (Arbeitsberater) sagte im Bremer Regional-Magazin "Buten & Binnen" am 15.02.2010:"Hier und da Missbrauch, das mag es geben, aber das ist verschwindend gering. 88-, 89 Prozent der Leute wollen arbeiten und sind sehr engagiert. Sie finden keine Arbeit, bekommen keine Arbeit, und wenn sie welche bekommen, dann oft völlig unterbezahlt. Davon kann man nicht leben. Die brauchen Hartz-IV als Ergänzung. Das kann nicht der Sinn von Arbeit sein." In der ARD Tagesschau um 20 Uhr war am gleichen Abend zu hören, dass 1,4 Millionen Bundesbürger derzeit nur deshalb Hartz-IV erhalten, weil ihr Arbeitslohn nicht zum Leben reicht.

Wie sagte Herr Westerwelle doch gleich?:
  • "Wer arbeitet ist zunehmend der Dumme."
Die gerade erwähnten 1,4 Millionen Hartz-IV Empfänger werden ihm da sicher zustimmen. Außerdem sagte Herr Westerwelle:
  • "Arbeit muss sich wieder lohnen. Wer arbeitet muss mehr haben, als diejenigen, die nicht arbeiten."
Es gibt genug Menschen in Berufen, in denen sie gerade einmal so "gut" verdienen, dass sie keine Hartz-IV Ergänzung mehr zugebilligt bekommen. Denen muss das Gerede von Herrn Westerwelle ja wie der blanke Hohn vorkommen.


Auch ich gehöre zu denjenigen aus der "Mittelschicht", die das Steuergeld für die Hartz-IV Empfänger aufbringen. Ich kann damit gut leben. Ich bin dagegen überhaupt nicht damit einverstanden, wenn meine Steuern dafür ausgegeben werden, in Afghanistan Menschen umzubringen, oder für die Förderung von Kohle- und Atomkraftwerken anstelle dringend notwendiger Klimaschutzmaßnahmen. Ich weiß anhand von Umfrageergebnissen, dass eine große Mehrheit der Bundesbürger in diesen Punkten mit mir einer Meinung ist. Vielleicht sollte Herr Westerwelle sich einmal Gedanken darüber machen, ob er seine Prioritäten falsch setzt.

Statt dessen prügelt er aber lieber diejenigen, die ohnehin keine Kraft mehr haben, sich zu wehren. Herr Westerwelle tut den meisten unter ihnen bitter Unrecht und ist sich außerdem zu fein dafür, sich für seine Wortwahl bei ihnen zu entschuldigen. Es zeugt von schlechtem Stil, auf den noch Schwächeren herumzutrampeln, um von der eigenen Schwäche abzulenken.

Herr Westerwelle sollte sich für seine schäbigen Verbal-Attacken auf die Arbeitslosen und Hartz-IV Empfänger schämen!


(Quellen: Die Welt vom 11.02.2010, ZDF Politbarometer vom 04.02.2010, ARD Deutschlandtrend vom 29.01.2010, Buten & Binnen vom 15.02.2010, ARD Tagesschau vom 15.02.2010)

5 Kommentare:

kelly hat gesagt…

dem kann ich in allen punkten nur zustimmen!
moin juwi,
politisch staut sich bei mir einiges auf, bei überdruck ist es gefährlich, zu leicht reagiere ich dann über.
wenn nun ein paar millionen genauso auf einmal explodieren?
dabei spüre ich wie sich militante ausdrucksweisen bei mir einschleichen, wollte ich immer vermeiden, sorry.

in diesem sinne alles gute!
kelly

Der Geestendorfer hat gesagt…

Lieber Jürgen,
Du hast es wieder mal auf dem Punkt gebracht. Das ist schließlich die "geistig moralische Wende". Weg mit der sozialen Marktwirtschaft, weg mit dem Sozialstaat. Es ist ein Horror. Wie wird Deutschland in vier Jahren sein?

Es grüßt Holger

Lucki hat gesagt…

Hola juwi,
die FDP liegt momentan schon wieder bei 10% in den Umfragewerten, nicht zuletzt deshalb , wiel sie die Aussagen (vielleicht nicht die Wortwahl von W.) untersützen. Der Missbrauch bei HIV ist enorm hoch, vor allem bei den Migranten. Leider kann ich hier nur stichworartig Stellung nehmen, sonst ufert das aus. Auch bei Nokia gehörten die entlassenen nicht nur der Mittelschicht an. Die qualifizierten waren im Nu wieder in Arbeit, die Hilfsarbeiter jedoch nicht. Auch ist nicht einzusehen, warum einer der 30 oder 40 Jahre gearbeitethat , unverschuldet arbeitslos wird schließlich genauso viel bekommt wie einer, der noch nie eine Schüppe in der Hand hatte. Ich gebe Dir Recht, dass keiner der Parteien ein Konzept hat Arbeitsangebote für solche Leute parat zu haben. Das Missverhältnis spielt sich ja gerade im unteren Lohnsektor ab ( Friseurin , Kellner, Busfahrer) Dort sind keine Anreize zu sehen, den Sozialstaat nicht auszubeuten. Vielmehr kassiert man das Geld aus meinen und Deinen Steuern, um anschließend der "Schwarzarbeit" nachzugehen, und diese, da sei versichert, ist das größete Übel, das es zu bekämpfen gilt. Versuch doch mal eine Putzfrau legal anzumelden, die lehnt dann großzügig ab etc. Auch von der Arbeitsagentur kommt doch wirklich keine Hilfe. Da wird doch nur so lange jongliert bis sie aus deren Statistik fallen. Dass insgesamt eine Umstrukturierung stattfinden muss, dass ist unbestritten, doch ein Konzept habe ich hüben wie drüben noch nicht entdecken können, wohl aber populistische Worthülsen je nach Parteizugehörigkeit.
LG Lucki

juwi hat gesagt…

@Lucki: Meine extern verfasste Antwort sprengt leider die Grenzen der erlaubten Länge eines Kommentars. Ich habe sie deshalb aufgeteilt. - Dass aktuelle Umfrageergebnisse nur Momentaufnahmen und keine statischen Fakten sind hatte ich ja bereits geschrieben. Interessanter sind da schon die Trends oder Mittelwerte über längere Perioden. Trotzdem spiegeln aktuelle Umfrageergebnisse immer die aktuelle Stimmungslage zu bestimmten Themen wider und sind daher durchaus geeignet, zur Beurteilung einer momentaren Lage beizutragen. Wenn Herr Westerwelle mit seinem populistischen Generalangriff gegen ALLE Hartz-IV Empfänger und Arbeitslosen bereits Erfolg haben sollte, dann wäre das aus meiner Sicht eine erschreckende Tatsache. Dass er damit Erfolg zu haben scheint, spiegelt sich auch in den aktuellen Berichten der Presse wieder. Dort ist kaum noch die Rede von den Ursachen der Misere und den dadurch bedingten Schicksale von vielen Millionen Arbeitslosen und ihren Familien. Dafür werden umso mehr die armen Angehörigen der Mittelschicht bedauert, die immerhin Arbeit haben, von der die meisten einigermaßen gut leben können. Diese verdrängen leicht die Tatsache, dass jeder von ihnen ebenso unverschuldet arbeitslos werden könnte, trauern den "verlorenen Sozialabgaben" nach, und freuen sich vielleicht insgeheim, dass "da endlich mal jemand auf den Putz haut". So spaltet man erfolgreich eine Gesellschaft! - Ich kann aufgrund mir vorliegender Fakten nicht beurteilen, wie hoch der Missbrauch unter den Hartz-IV Empfängern ist. Nachdem, was die Tagesschau darüber berichtete, und nach dem Bericht von "Buten & Binnen" gehe ich jedoch davon aus, dass es sich eher um eine Minderheit handeln wird. Auch darüber, wie hoch der Anteil des Hartz-IV-Missbrauchs unter den Bundesbürgern mit Migranten-Hintergrund ist, liegen mir keine Zahlen vor. Deshalb werde ich mich dazu auch nicht äußern. - Ich bezweifle nicht, dass ehemalige Mitarbeiter des geschlossenen Nokia-Werks wieder Arbeit gefunden haben. Darüber, und darüber dass die angelernten ehemaligen Arbeitnehmer die größte Problemgruppe der Arbeitsagenturen sind, wurde in den Fernsehnachrichten und der Presse damals mehrfach berichtet. Genaue Zahlen liegen mir darüber allerdings nicht vor. Falls dir welche vorliegen sollten, oder du eine Quelle dafür kennst, würde es mich schon einmal interessieren, welche Folgen der Ausfall eines der größten Arbeitgeber in der Region hatte. Was der Wegbruch ganzer Industriezweige für Bremerhaven bedeutet (Hochseefischerei, Schiffbau), darüber könnte ich dir aus eigener Anschauung so einiges berichten. Die im Stadtbild sichtbaren Auswirkungen sagen aber noch nichts über das Schicksal der damals arbeitslos gewordenen Werftangehörigen und das der ehemaligen Trawlerbesatzungen aus. - Ich kann dir aus meinen Freundes- und Bekanntenkreis, sowie aus meiner Familie Beispiele aufzählen, was Arbeitslosigkeit, und die Abhängigkeit von Hartz-IV bedeuten. Von denen hat sich nie jemand in der "sozialen Hängematte" breitgemacht, wie es Herr Westerwelle in seinem Generalangriff ALLEN Hartz-IV Empfängern und Arbeitslosen unterstellt hat. Unter den mir bekannten Personen befinden sich ein Physiker, ein Ingenieur für Betriebs- und Versorgungstechnik, ein Kfz-Mechaniker, ein Schlosser und eine Friseurin - alles Menschen mit Berufsausbildung und -Erfahrung, darunter zwei Akademiker.

juwi hat gesagt…

@Lucki, Fortsetzung: Die Friseurin ist meine Cousine. Sie war jahrelang Hausfrau, während ihr Mann als Kfz-Mechaniker arbeitete. Er hat sie wegen "einer Neuen" verlassen und es kam zur Scheidung. Die Söhne wohnen bei ihr, und sie hat ein Haus abzubezahlen. Das Gehalt einer Friseurin reicht dafür nicht. Deshalb nahm sie Arbeit auf dem Bremerhavener Autoterminal an. Ihr "Ex." wurde arbeitslos und die Unterhaltszahlungen blieben aus. Seitdem der Autoumschlag aufgrund der Wirtschaftskrise dramatisch eingebrochen ist, hielt sich meine Cousine mit diversen Jobs über Wasser. - Der Kfz-Mechaniker arbeitete im "gelobten Lande Bayern" in einer Polsterfabrik. Er verdiente dort mehr, wie in seinem erlernten Beruf. Die Firma ging vor vielen Jahren in Konkurs. Seitdem hat er viele Jobs hinter sich, unter anderem auch bei Leiharbeitsfirmen. Die längste Strecke war ein auf zwei Jahre befristeter Arbeitsplatz, der es ihm und seiner Familie ermöglichte, etwas für die wieder zu erwartenden schlechten Zeiten "auf die hohe Kante" zu legen, notwendige Reparaturen am Haus durchzuführen und uns im letzten Jahr in Bremerhaven zu besuchen. - Der Physiker und seine Familie hatten das Glück, dass seine Frau eine gut bezahlte Arbeitsstelle im Krankenhaus hat. Er selbst trägt seit vielen Jahren mit befristeten Jobs zum Familienunterhalt bei. Aus meiner Sicht ist er ein krasses Beispiel für vergeudetes geistig-wissenschaftliches Potential. - Das gleiche gilt für den Ingenieur. Nach dem Verlust der Arbeitsstelle zerbrach die Ehe, er konnte das Haus zuletzt nicht mehr halten, zog aus dem Landkreis in eine Wohnung in Bremerhaven, aus der er aufgrund verschärfter Hartz-IV Vorgaben in eine kleinere umziehen musste. - Hartz-IV, Gelegenheitsjob, Hartz-IV, befristetes Arbeitsverhältnis, Hartz-IV, ... das ist die Lebenserfahrung dieser Leute. Ihre Bewerbungsschreiben würden inzwischen Bände füllen. Aus Gesprächen mit ihnen ist mir auch bekannt, dass sich Hartz-IV Empfänger für ihre Anträge "bis auf die Unterhose ausziehen" müssen, bevor über ihren Antrag überhaupt entschieden wird. In meinen Augen ist das absolut erniedrigend und alles andere als das üppig-dekadente Leben von Leuten, die sich auf Kosten der Allgemeinheit den Bauch vollschlagen. - Du sagst, das Missverhältnis spiele sich gerade im unteren Lohnsektor ab. Da gebe ich dir uneingeschränkt recht. Ich gehe sogar noch weiter: Die Level der Gehälter im "unteren Lohnsektor" ist das eigentliche Übel in diesem Lande. Währen die Gehälter dort höher, so dass die Leute davon auch leben könnten, dann gäbe es auch keine Schwarzarbeit. Niemand wäre dann mehr bereit, sich dem Risiko auszusetzen, entdeckt zu werden, und Steuern nachzahlen zu müssen, die ihn möglicherweise bis an sein Lebensende in der Schuldenfalle halten könnten. Davon einmal abgesehen gehören zur Schwarzarbeit immer zwei: Der Arbeitgeber ebenso wie der Arbeitnehmer. Erstere treiben andere Betriebe mit Dumpingangeboten in den Ruin. Menschen verlieren mit dem Ende der Firma ihres ehemaligen Arbeitgebers ihren Job, finden möglicherweise keine neue legale Arbeit, sind damit möglicherweise die Schwarzarbeiter der Zukunft und tragen damit zum Ruin weiterer legaler Betriebe bei. Alle wissen das - nur wird kaum etwas dagegen unternommen. Wenn aber doch einmal Firmen auffliegen, die Schwarzarbeiter beschäftigt haben, dann zeigt sich damit oft nur die Spitze des Eisbergs. Beklagt wird in diesem Zusammenhang dann immer wieder die Personalknappheit bei den Fahndern. Immer wieder. Ändern tut sich jedoch nichts. - Bezüglich der allgemeinen Konzeptlosigkeit stimme ich dir zu. Aus meiner Sicht wäre das einzig mögliche Konzept, diese Schrauben zu durchbrechen, eine ausreichende Bezahlung der Arbeit, vor allem in den unteren Lohngruppen - aber das bleibt wohl Dank der Arbeitgeberverbände und Parteien wie der FDP oder der CDU/CSU bis in alle Ewigkeit nichts weiter als Utopie.

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