Nach nur sechs Jahren erklärt die japanische Regierung die Evakuierung für mehr als 10.000 Familien jetzt für beendet. Sie sollen in ihre Dörfer zurückkehren, die - wie Oasen in einer lebensfeindlichen Wüste - in einer einer stark radioaktiv kontaminierten Umgebung liegen.
Irgendwie scheinen die dafür Verantwortlichen unter einer extremen Form von Realitätsverlust zu leiden. Die Dächer und Straßen wurden gewaschen, radioaktiv kontaminiertes Laub und Gras eingesammelt. Rund um die Häuser und auf einem 20 Meter breiten Streifen links und rechts der Straßen wurden die obersten, am stärksten belasteten Bodenschichten abgetragen. Auf diese Weise sind viele Millionen Kubikmeter Atommüll zusammen gekommen, der nun in Plastiksäcken verpackt auf lokalen Sammelplätzen lagert. Niemand weiß, wohin damit und niemand kann sagen, wie lange die Säcke dicht halten. Für das Problem mit dem verstrahlen Boden gibt es keine Lösung.
Es wurde nur etwas weiter in die Zukunft verschoben.
76 Prozent der Wälder in der Umgebung des etwa 40 Kilometer landeinwärts der havarierten Reaktoren gelegenen Ortes Iitate sind ähnlich hochgradig radioaktiv belastet wie die bis heute noch unbewohnte Zone 30 km rund um Tschernobyl. Mit dem Wind wird der radioaktiv belastete Staub in der Umgebung verteilt. Er liegt dann auf den Pflanzen auf den Feldern, auf den gewaschenen Straßen mit ihren 20 Meter breiten dekontaminierten Streifen, auf den gewaschenen Dächern und auf den Spielplätzen der Kinder. Für das Problem der "dekontaminierten" Dörfer in den kontaminierten Regionen rund um die explodierten Atomreaktoren der Atomkraftruine "Fukushima-I" gibt es keine Lösung.
Mit dem Wind kehrt die Radioaktivität zurück.
So absurd wie die Bemühungen um eine Dekontamination der verstrahlten Regionen sind, so niederträchtig sind die Methoden, mit denen die ehemaligen Bewohner der Dörfer "dazu bewegt werden" sollen, in ihre radioaktiv belastete Heimat zurückzukehren: Die staatlichen Entschädigungszahlungen für die betroffenen Haushalte werden eingestellt. Die meisten der Evakuierten werden sich schlicht unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten genötigt sehen, in die verstrahlten Dörfer zurückzukehren - in ein Leben jenseits jeder Normalität!
Auf diese Weise hofft Japans Regierung,
dass der Super-GAU in Vergessenheit gerät.
Es gibt aber auch Menschen - vor allem Frauen - die trotz alledem nicht zurückkehren werden. Die Angst vor der allgegenwärtigen Radioaktivität und die Sorgen um ihre Kinder sind größer als die Sorgen im Hinblick auf eine wirtschaftlich ungesicherten Zukunft.
Die Frauen
Fukushima - Mütter ziehen vor Gericht (© Greenpeace, 2017)
Internationale Bestimmungen sollen dafür sorgen, dass Frauen, Kinder und alte Menschen in Extremsituationen besonders geschützt werden. In Evakuierungszentren muss deshalb insbesondere darauf geachtet werden, dass die Intimsphäre der traumatisierten Frauen gewahrt bleibt und dass sie vor Vergewaltigungen geschützt sind. Für Kinder müssen Spielbereiche eingerichtet werden, um den Stress der Ausnahmesituation weitestgehend von ihnen fernzuhalten. Genau das aber wurde nach der Atomkatastrophe in Japan versäumt.
Die internationale Umweltschutzorganisation "Greenpeace" schreibt in einem Artikel auf ihrer Internetseite, die hochtechnisierte Wohlstandsnation Japan sei Unterzeichner einer Vielzahl internationaler Verträge und Menschenrechtsabkommen. Trotzdem würden aber gerade Frauen und Kinder in mehrfacher Hinsicht besonders unter der den Folgen des Super-GAUs leiden. Das gelte sowohl für ihre körperliche und seelische Verfassung, wie auch für ihre finanzielle und soziale Situation. Zwischen den einzelnen Faktoren gebe es Wechselwirkungen, so dass sie sich sich in ihren Auswirkungen gegenseitig verstärken.
Infolge der Radioaktivität komme es bei späteren Schwangerschaften von Frauen, die einmal einer erhöhten Radioaktivität ausgesetzt waren, wesentlich häufiger zu Tot- und Fehlgeburten, Missbildungen und Säuglingssterblichkeit, als bei radioaktiv unbelasteten Frauen. Zudem hätten es solche Frauen schwer, in der von Männern dominierten japanischen Kultur einen Ehemann zu finden und eine Familie zu gründen. Sie seien somit auch sozial ausgegrenzt.
In der ersten Zeit nach dem Super-GAU habe die japanische Regierung Messwerte unter Verschluss gehalten und die radioaktive Belastung heruntergespielt. Das habe dazu geführt, dass die ohnehin von der Radioaktivität stärker betroffenen Frauen und Kinder einer weit höheren Strahlung ausgesetzt wurden, als nötig gewesen wäre.
Mit dem Verweis auf eigene Messungen vor Ort bezeichnet Greenpeace die Wiederansiedelung in den radioaktiv kontaminierten Regionen, die von der japanische Regierung jetzt vorangetrieben werden, als unverantwortlich. Auch davon seien erneut insbesondere Frauen und Kinder betroffen. Ein unbeschertes Leben, in dem die Kinder sicher und behütet aufwachsen können, sei inmitten einer radioaktiv kontaminierten Sperrzone nicht möglich.
Grundsätzlich habe die finanzielle Unterstützung der japanischen Regierung bisher dazu beitragen, dass die von der Katastrophe Betroffenen besser mit dem Verlust ihrer Heimat umgehen konnten. Da die Ausgleichszahlungen nach der Evakuierung jedoch ausschließlich an die Haushaltsvorstände, also an die Männer ausgezahlt worden seien, konnten die Frauen nicht darüber verfügen. Hinzu komme, dass die Frauen in der japanischen Gesellschaft in der Regel ohnehin finanziell schlechter gestellt sind, als die Männer. Die Atomkatastrophe habe diese Ungleichheit noch einmal verstärkt.
Finanzielle Unabhängigkeit sei jedoch eine Voraussetzung dafür, eine verfahrene oder gewalttätige Beziehung verlassen zu können. Für viele der betroffene Frauen gebe es daher keinen Ausweg aus ihrer Situation.
Infolge der Atomkatastrophe, so heißt es in dem Artikel von Greenpeace weiter, seien viele Beziehungen zerbrochen und Familien auseinandergerissen worden. Einer der Gründe sei der Stress der Ausnahmesituation, der die Beziehung nicht gewachsen gewesen sei. Häufig seien es aber vor allem die Frauen gewesen, die sich aus Sorge um ihre Kinder zur Flucht aus den belasteten Gebieten entschieden haben, während ihre Männer, die sich aus Sorge um ihr Eigentum oder um weiterhin ihrer Arbeit nachgehen zu können, oftmals nicht dazu durchringen konnten. Viele dieser alleinerziehenden Frauen seien heute massiv von Armut bedroht.
Frauen seien zwar besonders verwundbar, aber nicht wehrlos. Viele von ihnen seien inzwischen nicht mehr bereit, ihr Schicksal einfach klaglos hinzunehmen. Der Widerstand gegen die japanische Regierung und deren Versuch, die Anwohner wieder in die verstrahlten Gebiete zurückzudrängen, werde überwiegend von Frauen organisiert. Sie hätten Online-Netzwerke gegründet, würden Demonstrationen planen, für Entschädigungen kämpfen und eine bessere Informationspolitik hinsichtlich der Folgen der Atomkatastrophe fordern.
Unequal Impact - ungleiche Auswirkungen
Die Art und Weise, in der die japanische Regierung auf die Atomkatastrophe vom 11. März 2011 reagierte - sowohl direkt im Anschluss, wie auch in den darauf folgenden Jahren - hatte eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen zur Folge. Insbesondere Frauen und Kinder leiden bis heute darunter. Das veranschaulicht ein aktueller Bericht mit dem Titel "Unequal Impact" (ungleiche Auswirkungen), den Greenpeace im März 2017 veröffentlicht hat.
- Unequal Impact
Bericht über Menschenrechtsverletzungen bei Frauen und Kindern nach dem Atomunfall im Kraftwerk Fukushima Daiichi (56 Seiten, englisch).
Für diejenigen, deren englische Sprachkenntnisse seit der Schulzeit "etwas eingerostet" sind, gibt es eine Zusammenfassung auf Deutsch.
Kettenreaktion Tihange
Der dreifache Super-GAU von Fukushima, der sich heute zum sechsten Mal jährt, ist ein Jahrestag, der den Blick auf die seit dem 11. März 2011 andauernde Atomkatastrophe in Japan lenkt. Unter dem Eindruck der Ereignisse in Japan und der vorangegangenen massiven Proteste gegen die "Laufzeitverlängerung" der schwarz-gelben Bundesregierung hat der Bundestag damals einen halben Atomausstieg beschlossen. Mit dem Atomkraftwerk "Grafenrheinfeld" ist seitdem nur ein einziger weiterer Meiler vom Netz gegangen. Acht Atomkraftwerke, die immer älter und störanfälliger werden, sind weiterhin in Betrieb. Dazu heißt es in einer Pressemitteilung der Anti-Atomkraft Organisation ".ausgestrahlt" (Zitat):
".. Hatten die Menschen in Japan noch Glück im Unglück, weil der Wind einen Großteil der strahlenden Wolke auf den Pazifik hinaus wehte, so können wir hierzulande nicht darauf hoffen. Denn die acht noch laufenden Reaktoren in Deutschland liegen bis auf eine Ausnahme nicht in Meeresnähe.
Für die Stromversorgung werden die Atomkraftwerke in Deutschland nicht mehr benötigt. Der einzige Zweck des geplanten Weiterbetriebs bis 2022 ist es, den Energieunternehmen noch einige Milliarden Euro in die Taschen zu spülen. Dafür das weiter steigende Risiko eines schweren Unfalls in Kauf zu nehmen, ist nicht zu verantworten."
Hintergrund:
Die Stromproduktion aus Erneuerbaren Energien stieg von 104 TWh im Jahr 2010 auf mehr als 188 TWh im vergangenen Jahr.
- Diese Steigerung um 84 TWh entspricht etwa der Atomstromproduktion im vergangenen Jahr.
(Franz Alt, Sonnenseite vom 10.03.2017)
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Import/Export Bilanz der deutschen Stromerzeugung. Im Jahre 2016 wurden 63,3 Terrawattstunden (TWh) ins Ausland exportiert. Die Importe aus dem Ausland lagen im gleichen zeitraum lediglich bei 15,8 TWh. Unterm Strich wurden also 47,5 TWh überflüssiger Strom erzeugt, der für die Stromversorgungin Deutschland nicht benötigt wurde (Agora Energiewende, Jahresauswertung 2016, Seite 26 /PDF: Seite 28).
Aber selbst wenn wir bis zur Abschaltung des letzten Atomkraftwerks in Deutschland - sofern es beim Beschluss von 2011 bleiben sollte wird das im Jahre 2022 der Fall sein - von einem Super-GAU verschont bleiben sollten, wird die Gefahr anschließend nicht aus der Welt sein. Rings um Deutschlands Grenzen werden dann immer noch Atomkraftwerke in Betrieb sein, deren Zustand bereits heute Anlass zur Sorge bietet.
Daran erinnern soll eine Ländergrenzen übergreifende Menschenkette erinnern, die am 25.06.2017 von Tihange (Belgien) über Lüttich (Belgien), Maastricht (Niederlande) bis Aachen (Deutschland) reichen soll. Unter dem Motto "Kettenreaktion Tihange" wollen Atomkraftgegner gemeinsam über Ländergrenzen hinweg gegen die Atonkraftwerke in Deutschland, in den Niederlanden und in Belgien demonstrieren.
Organisiert wird das ganze vom "Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie" (Deutschland) gemeinsam mit den Initiativen "Fin du nucléaire" (Belgien), "113eweging" (Belgien), "WISE - World Information Service on Energy" (Niederlande) und "Stop Tihange" (International). Damit genügend Menschen für die 90 Kilometer lange Strecke zusammenkommen sind auch wieder die Atomkraftgegner aus ganz Deutschland gefordert.
Details zur Aktion gibt es auf der Internetseite "Kettenreaktion Tihange".
Zum Weiterlesen
- Defekte in den Reaktordruckbehältern
von Doel 3 und Tihange 2
Ergebnisbericht der Konferenz am 24. und 25. Januar 2014 zu der das "Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie" gemeinsam mit der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament nach Aachen eingeladen hatte.
- No Return To Normal
Fallstudien zur gegenwärtigen Situation in Iitate in der japanischen Präfektur Fukushima. Die Bewohner sind möglicherweise lebenslanger Strahlenbelastung ausgesetzt.
(Greenpeace, veröffentlicht im Februar 2017, 28 Seiten, englisch)
(Quellen: Greenpeace, Kettenreaktion Tihange, .ausgestrahlt Newsletter vom 22.02.2017 und Pressemitteilung vom 09.03.2017, Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie, Agora Energiewende - Jahresauswertung 2016 , Franz Alt - Sonnenseite vom 10.03.2017 )
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