Mittwoch, 3. September 2014

Nowarossija - Die Krim ist nicht genug

Nowarossija - Neurussland: Die imperialen Träume des Herrn Putin
Angaben der NATO zufolge sollen inzwischen mehr als eintausend russische Soldaten auf ukrainischen Territorium im Einsatz sein. Wenn Militär und Geheimdienste derartige Zahlen veröffentlichen, ohne dafür für jedermann nachprüfbare Fakten auf den Tisch zu legen, dann ist nach den Erfahrungen mit dem verbalem Kettenrasseln im Zusammenhang mit den  militärischen Auseinandersetzungen der letzten 30 Jahre grundsätzlich ein gewisses Maß an Misstrauen angebracht.

Die von der NATO veröffentlichten Satellitenaufnahmen sind für diejenigen, die sie nicht zu deuten wissen, ein eher ungeeigneter Beweis. Allerdings sprechen Indizien dafür, dass tatsächlich russische Soldaten in die Kämpfe in der Ukraine involviert sind - und dafür dass Herr Putin - vorsichtig formuliert - nicht ganz die Wahrheit sagt. Ein Beleg für die Unterstützung der Separatisten durch russische Soldaten im Kampf gegen die Regierungstruppen ist beispielsweise die Festnahme mehrerer russischer Fallschirmjäger auf ukrainischem Boden - rund 50 Kilometer von der Grenze entfernt. Darüber berichtet unter anderem die Tagesschau einem Artikel auf ihrer Internetseite vom 28.08.2014.

Angesichts dieser Tatsache spielt es auch schon fast keine Rolle mehr, ob die Separatisten von zehn, hundert oder tausend russischen Soldaten unterstützt werden: Zumindest bezüglich der aufgegriffenen Fallschirmjäger hat Herr Putin offenbar nicht die Wahrheit gesagt.

Am 29.08.2014 zeigten die "tagesthemen" der ARD einen Ausschnitt aus einem Amateurvideo in dem ein russischer Panzer des Typs T-72BM in einer Panzerkolonne in der Ukraine zu sehen ist. Herr Dempsey (Institut für strategische Studien London) geht davon aus, dass Panzer dieses Typs nur von der russischen Armee verwendet werden. Russland habe diese Panzer nie exportiert und es könne sich dabei auch nicht um ein "Erbstück" aus Beständen der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine handeln.
  • Sollten Herrn Dempseys Annahmen zutreffen, dann wäre zusammen mit dem russischen T-72BM Panzer also mindestens auch die dazugehörige russische Besatzung des Militärgeräts in die Ukraine eingedrungen.

Fronturlaub

Ebenfalls am 29.08.2014 erklärte Herr Tschurkin (Russland, UN-Botschafter) während einer von Litauen beantragten Sondersitzung des UN Sicherheitsrats, dass von einer Invasion der russischen Armee in der Ukraine natürlich keine Rede sein könne. Überraschenderweise gab er in dieser Sitzung jedoch erstmals zu, dass russische Soldaten "freiwillig" an der Seite der Separatisten in der Ost Ukraine kämpfen (Zitat):
"Das weiß doch jeder. Das verheimlicht doch niemand."
Wenn diese Soldaten sich aber tatsächlich freiwillig an den Kämpfen der Separatisten in der Ukraine beteiligen sollten, dann wäre das jawohl nur außerhalb ihrer Dienstzeit - also im Urlaub - möglich ... - da bekommt der Begriff "Fronturlaub" in Putins Russland plötzlich eine völlig neue Bedeutung.
  • Oder sollte der mächtige Herr Putin seine Armee etwa nicht mehr unter Kontrolle haben?
Davon ist wohl kaum auszugehen: Alle Indizien deuten stattdessen auf gezielte Desinformation und Vertuschungsversuche seitens der Machthaber im Kreml hin. Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 31.08.2014, das russische Staatsfernsehen habe sich infolge öffentlicher Kritik gezwungen gesehen, über einen brutalen Überfall auf den prominenten Kommunalpolitiker Lew Schlossberg zu berichten. Herr Schlossberg habe zuvor erklärt, in der nahe der Grenze zu Estland gelegenen Stadt Pskow (Russland, Oblast Pskow) seien heimlich Soldaten beerdigt worden, die in der Ostukraine getötet worden seien. In einem Bericht der "Tiroler Tageszeitung" heißt es dazu, Herr Schlossberg habe in diesem Zusammenhang von etwa einhundert Fallschirmjägern aus Pskow gesprochen.
  • Warum werden dort in aller Stille heimlich Leute verscharrt, bei denen es sich angeblich nur um Abenteuerurlauber handelt, die - aufgrund ihrer Verblendung und persönlicher Selbstüberschätzung - tot aus ihren privat organisierten "Fronturlaub" zurückgekehrt sind?

Die Rückkehr der "Soldatenmütter"

Weiter heißt es im Bericht der Süddeutschen-Zeitung vom 31.08.2014, auch das "Komitee der Soldatenmütter" habe über verletzte Soldaten berichtet, die nach Kämpfen in der Ostukraine in russischen Krankenhäusern behandelt würden. Einem Artikel der russischen Zeitung "Nowaja Gaseta" zufolge hätten besorgte und trauernde Mütter und Ehefrauen von undurchsichtigen Kampfeinsätzen ihrer Söhne und Männer im Konfliktgebiet berichtet.

Das "Komitee der Soldatenmütter" ist eine Nichtregierungsorganisation die sich in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts zur Zeit der Tschetschenienkriege gegründet hatte. Auch damals hatte die Regierung Russlands versucht, die Mütter über die Umstände des Todes ihrer Söhne im Unklaren zu lassen. Dafür handelte sie sich die offene Kritik des "Komitees der Soldatenmütter" ein, das auf eigene Initiative versuchte, die Wahrheit über die Hintergründe für den Tod in Tschetschenien ums Leben gekommener russischer Soldaten herauszufinden und - an der Regierung vorbei - mit den Tschetschenen die Freilassung russischer Gefangener aushandelte.
  • Jetzt sehen sich die Soldatenmütter erneut veranlasst, die Öffentlichkeit über verdeckte mititärische Operationen ihrer Regierung und die Verheimlichung der Folgen für die dabei ums Leben gekommenen russischen Soldaten und deren Familien aufzuklären.
Sie recherchieren, veröffentlichen Listen mit den Namen getöteter Soldaten und geben Auskunft über Krankenhäuser, in denen in der Ukraine verwundete Soldaten liegen. In einen Ausschnitt aus einer Nachrichtensendung des ukrainischen Fernsehens vom 28.08.2014, der in einem Filmbeitrag der "tagesthemen" der ARD vom 29.08.2014 zu sehen war, sagt eine russische Soldatenmutter (Zitat):
"Befehle wurden ihnen nur mündlich erteilt. Sie hatten keine Dokumente bei sich. Wie könnte man also beweisen, dass sie in der Ukraine getötet wurden? Es ist mir so peinlich. Es ist furchtbar, was unsere Regierung da macht. Sie schicken Leute in den Tod und übernehmen keine Verantwortung dafür."

In einem Artikel auf ihrer Internetseite vom 01.09.2014 berichtet die "Tiroler Tageszeitung", Frau Poljakowa ("Soldatenmütter von St. Petersburg") zufolge seien allein etwa einhundert Soldaten des in Tschetschenien beheimateten 18. Infanterieregiments in der Ukraine getötet worden. Bei ihren Einsatzbefehlen verzichte die russische Armee weitgehend auf Schriftstücke. Alle Befehle würden mündlich erteilt. Die Truppen würden für Übungen in Richtung Ukraine geschickt. Nahe der Grenze würden sie aufgefordert, ihre Uniformen zu wechseln und die Kennzeichnungen ihrer Fahrzeuge zu übermalen. Dann gehe es weiter in die Ukraine.

Das gehe auch aus Berichten mehrerer Menschenrechtsgruppen hervor. Den Familien der getöteten Soldaten würden Informationen über den Ort, an dem ihre Angehörigen gestorben sind, vorenthalten. Den Armeedokumenten seien lediglich Todesursachen wie Schusswunden zu entnehmen. Frau Poljakowa habe gesagt, die Verantwortlichen würden die Stelle im Standardformular für den Sterbeort ganz einfach nicht ausgefüllen. Das sei auch schon zur Zeit der Tschetschenienkriege so gewesen.


Ausländische Agenten

Seit dem 29.08.2014 betrachtet das russische Justizministerium die "Soldatenmütter von St. Petersburg" als ausländische Agenten. Das Mittel zum Zweck ein Gesetz, das seit etwa zwei Jahren in Kraftt ist, und mit dem Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland erhalten,  als "Auslandsagenten" eingestuft werden. Offiziell soll es ausländische Agenten daran hindern, Einfluss auf die russische Innenpolitik zu nehmen.

De facto richtet es sich jedoch beispielsweise gegen Umweltschutzorganisationen, Menschenrechtsorganisationen, oder gegen Organisationen, die Unregelmäßigkeiten bei Wahlen oder Korruptionsfälle aufdecken ... - oder gegen Mütter, die von der Regierung Auskunft über den Aufenthaltsort ihrer Söhne fordern. Kurz gesagt: Mit dem Gesetz soll Kritik am "System Putin" unterdrückt werden.
  • Besorgte und trauernde Mütter, die Aufklärung über das Schicksal ihrer mutmaßlich in einem verdeckten Krieg verheizten Söhne verlangen, werden kriminalisiert.

Imperiale Träume: Die Krim ist nicht genug

Und falls es noch irgendwelche Zweifel daran gegeben haben sollte, das die Fragen und die Kritik der Soldatenmütter durchaus begründet sind, dann hat Herrn Sachartschenko (Separatistenführer) diese in der letzten Woche gründlich ausgeräumt. Auf ihrer Internetseite zitiert die Tagesschau ihn mit den Worten (Zitat):
"Wir haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass es unter uns viele Russen gibt, ohne deren Hilfe wir es sehr schwer hätten. In unseren Reihen hat es etwa 3000 bis 4000 gegeben. Viele sind heimgefahren. Viel mehr sind aber geblieben. Leider gab es auch Tote."
Bei den Russen handele es sich ausschließlich um Freiwillige, darunter aber viele reguläre russische Soldaten, die ihre Freizeit an der ostukrainischen Front verbringen würden.

Der Versuch der Regierung, die Hintergründe für den Tod der russischen Soldaten zu verheimlichen, die ihre freiwilligen "Freizeitaktivitäten" in den Ukraine nicht überlebt haben, der Bericht Herrn Schlossbergs und der Überfall auf ihn, die in der Ukraine festgenommenen Fallschirmjäger oder die aktuellen Erkentnisse der Soldatenmütter sprechen jedenfalls dafür, dass - wenn überhaupt - längst nicht alle auf Seiten der Separatisten in die Kämpfe verwickelten Russen freiwillig ihr Leben aufs Spiel setzen, damit Herr Putin seine imperialen Träume verwirklichen kann.

Die Aussichten dafür, dass diese Träume Herrn Putins in Erfüllung gehen könnten, stehen derzeit leider nicht schlecht. Jedenfalls bezeichnete er die Separatisten in der letzten Woche im russischen Fernsehen schon mal als "Volkswehr" und lobte sie als "Verteidiger von Neurussland".


Nowarossija

Mit "Neurussland" (Nowarossija) sind große Teile der Südost-Ukraine gemeint, auf die es die Separatisten abgesehen haben. Nowarossija war der Name einer Provinz des Zarenreichs. Im 18. Jahrhundert begann Katharina-II ("die Große") damit, ihr "Griechisches Projekt" zu verwirklichen. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, das Osmanische Reich zu erobern und so ein zusammenhängendes, orthodoxes Reich von der Ägäis bis nach Russland zu schaffen. Zwar konnte sie ihre Pläne auch nach mehreren Kriegen nicht vollständig realisieren, brachte jedoch weite Teile Südrusslands und der Südukraine unter ihre Kontrolle, die dann unter dem Namen "Neurussland" zusammengefasst wurden ...

Bereits im April dieses Jahres hatte Herr Putin im russischen Fernsehen gesagt, Gott allein wisse, warum die Bolschewiken das von Katharina der Großen eroberte Gebiet nach der Revolution von 1917 an die Ukraine übertragen hätten. Ebensowenig hat er Verständnis für die Beweggründe Herrn Chruschtschows (ehem. Sowjetunion, ehem. Regierungschef), der im Jahre 1954 die Halbinsel Krim in die Ukraine eingeliedert hatte. Als Russland die Krim in den Wirren nach dem Volksaufstand gegen die Regierung Anfang 2014 annektierte, sagte Herr Putin, der Fehler Herrn Chruschtschow von damals werde nun wieder gutgemacht.

Folgt man der Logik, mit der Herr Putin die Annexion der Krim rechtfertigt, dann lässt sich erahnen, welche Ziele er mit der militärischen Unterstützung der Separatisten im Osten und im Süden der Ukraine verfolgt. "Westlichen" Regierungen und Medien gegenüber streitet er zwar offiziell nach wie vor ab, dass Russland aktive Unterstützung für die Separatisten in der Ukraine leistet, aber
  • ich denke, Herr Putin lügt der gesamten Weltgemeinschaft frech ins Gesicht. Und dass er dabei so tut, als glaube er, das werde schon keiner merken, das ist einfach nur peinlich.

(Quellen: Tagesspiegel vom 01.09.2014, Tiroler Tageszeitung vom 01.09.2014, Süddeutsche Zeitung vom 31.08.2014, Kurier vom 30.08.2014, Tagesanzeiger vom 29.08.2014, Der Spiegel vom 29.08.2014, Tagesschau Bericht vom 29.08.2014 mit Video und  Bericht vom 28.08.2014, Wikipedia )

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