Dienstag, 14. Juli 2009

Medicus ...

... - oder: Zurück zu den Wurzeln.















Statue des Doktor Eisenbarth
an seinem Sterbehaus in der
Langen Straße in Hann. Münden

© Axel Hindemith



Es gab einmal eine Zeit in Europa, die wir heute das Mittelalter nennen, in der von Zeit zu Zeit ein Quacksalber mit seinem Pferdefuhrwerk in's Dorf oder in die Stadt kam. Die Leute, die bis dahin mit ihren gebrochenen Knochen, faulen Zähnen, verschleppten Bakterien- oder Virus-Erkrankungen trotz ihrer Schmerzen tapfer durchgehalten hatten, strömten dann auf dem Dorfplatz oder dem Marktplatz zu Hauf, um sich von dem guten Mann kurieren zu lassen. Zu dieser Zeit war es allerdings noch ein Glücksfall, wenn die Kranken zufällig an einen wirklichen Medicus gerieten, der sein Handwerk vielleicht sogar bei einem studierten Kollegen im fernen Persien gelernt hatte. Oft genug gaben die Menschen aber auch ein Vermögen für die Behandlung ihrer Krankheiten aus, nur um hinterher feststellen zu müssen, dass sie einem Scharlatan aufgesessen waren ...
  • Heute ist das glücklicherweise anders:
    In jedem Dorf und in jeder Stadt gibt es eine große Anzahl Allgemeinmediziner, Orthopäden, Zahnärzte und andere Spezialisten, so dass jeder Bürger die Möglichkeit hat, sich mit seinen Wehwehchen an den Arzt seines Vertrauens zu wenden.

Ist es wirklich überall so?

Nein, nicht wirklich! In vielen kleinen deutschen Dörfern gibt es keinen Landarzt mehr. Bis auf wenige Ausnahmen haben die Landärzte die Dörfer verlassen. Wenn die Leute krank werden, dann müssen sie in das nächste Dorf, in dem es noch einen Arzt gibt, oder in die nächste Stadt fahren. Viele Menschen auf dem Land besitzen kein Auto, oder haben es abgeschafft, weil sie inzwischen alt geworden sind und sich zu unsicher im Straßenverkehr fühlen. Mit dem oft sehr spärlich organisierten öffentlichen Personen Nahverkehr im ländlichen Raum, kann eine Fahrt in die nächste große Stadt leicht zu einer Art Weltreise ausarten. Darauf, dass von Zeit zu Zeit ein Quacksalber mit seinem Pferdefuhrwerk in's Dorf kommt, können die Leute auf dem Land heutzutage allerdings lange warten.

Das hat inzwischen sogar Frau Schmidt (SPD, Bundesministerin für Gesundheit) erkannt, und sie hat natürlich auch schon eine Lösung für das Problem gefunden. Damit die Leute in den Dörfern nicht mehr in die ferne Stadt zum Arzt fahren müssen, soll der Landarzt ab und zu wieder zu ihnen in's Dorf kommen. Eigentlich soll es also wieder so werden, wie es früher schon einmal gewesen ist. Dieses Modell der medizinischen Versorgung hatte sich schließlich vor vielen Jahrhunderten schon einmal mehr oder weniger gut bewährt.

Um dem Fortschritt Rechnung zu tragen, sollen jetzt jedoch Allgemeinmediziner, Orthopäden, Zahnärzte und andere Spezialisten aus "Medizinischen Versorgungszentren" im täglichen Wechsel nach einem festgelegten Zeitplan täglich in einer "angegliederten Praxis" in den abgelegenen Dörfern aufkreuzen. Als weiterer Vorteil gegenüber dem Mittelalter könnte sich herausstellen, dass die Kranken in den Dörfern heutzutage nicht mehr befürchten müssen, so oft an einen Scharlatan zu geraten.

Pech wäre nur, wenn jemand am Freitag Abend furchtbare Zahnschmerzen bekommen sollte, und ein Zahnarzt, genau nach Plan, erst am folgenden Donnerstag wieder in der "angegliederten Praxis" erscheinen würde. Eine Zahnbehandlung von einem Augenarzt durchführen zu lassen, könnte das Problem jedenfalls unter Umständen eher noch verschlimmern. Das Privileg, sich mit ihren Wehwehchen an den Arzt ihres Vertrauens zu wenden, bliebe außerdem den Menschen in der Stadt vorbehalten. Die Leute auf dem Land müssten das nehmen, was ihnen im täglichen Wechsel vorgesetzt wird. Wenn Frau Schmidt nicht in Aachen, sondern in einem deutschen Dorf aufgewachsen wäre, dann wüsste sie, dass das gar nicht gut bei der Landbevölkerung ankommt.

Um überhaupt genug Ärzte für ihr mittelalterliches Vorhaben zu gewinnen, schlägt Frau Schmidt vor, Medizinstudenten sollten Stipendien erhalten und von Studiengebühren befreit werden, wenn sie sich im Gegenzug für fünf Jahre zur Arbeit in einem ländlichen "Medizinischen Versorgungszentrum" verpflichten. In ihrem unerschütterlichen Optimismus geht sie natürlich davon aus, dass die meisten Ärzte dann wohl auch dort bleiben würden.

Frau Schmidt doktort jetzt bereits seit dem 12. Januar 2001 an unserem Gesundheitssystem herum. Anstatt aber die medizinische Versorgung auf dem früheren hohen Niveau und für jeden Patienten erschwinglich zu halten, hat sie es mit ihren sogenannten Reformen geschafft, dass wichtige Präventionsmaßnahmen eingeschränkt und Leistungen gestrichen wurden. Für die 2004 eingeführte Praxisgebühr sollte es Entlastung durch die Senkung der Krankenkassenbeiträge geben. Diese sind seit dem jedoch statt dessen mehrmals angehoben worden. So mancher Mitbürger muss sich inzwischen schon sehr genau überlegen, ob er sich einen Arztbesuch überhaupt noch leisten kann, oder ob er sich nicht lieber selbst mit überlieferten Hausmitteln oder frei verkäuflichen Medikamenten aus der Apotheke behelfen sollte.


Der wohl bekannteste reisende Arzt im deutschen Raum war der gut 150 Jahre nach dem Ende des Mittelalters geborene Doktor Eisenbarth (27.03.1663 bis 11.11.1727). Das bekannte auf ihn gemünzte Spottlied sollte allerdings wohl eher auf das Flickwerk aufeinander folgender deutscher Gesundheitsreformen umgeschrieben werden: Der Doktor Eisenbarth soll nämlich ein wirklich fähiger Arzt gewesen sein.


(Quelle: NZ vom 13.07.2009, Zeit online vom 13.7.2009)

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