Donnerstag, 9. Januar 2014

Es fehlt an Respekt gegenüber den Bürgern

Herr Weber (SPD, Bremen, Bürgerschaft, Präsident) propagierte beim Neujahrsempfang im Parlament des Landes Bremen eine Wahlpflicht für Deutschland. Er sei inzwischen ein Befürworter der Wahlpflicht, die er als Stabilisator unseres allgemeinen und freien Wahlrechts verstanden wissen möchte. Darüber berichteten mehrere Lokal-Medien aus der Region rund um Bremen.

Herr Weber begründete seinen Standpunkt mit der seit Jahren sinkenden Wahlbeteiligung. Die größte Partei sei mittlerweile diejenige der Nichtwähler. Das sei nicht hinnehmbar. Für ihn stelle sich die Frage nach der Legitimation der Volksvertreter, wenn sie von immer weniger Menschen gewählt werden. Diese berechtigte Frage habe ich in den letzten Jahren auch schon des öfteren gestellt und bin damit mit Sicherheit nicht der einzige.

Zuvor hatte Herr Weber in seiner Neujahrsrede über Bildung, Demokratie und soziale Ungleichheit gesprochen und in diesem Zusammenhang "mehr Bildung für alle" gefordert. Demokratie brauche ein interessiertes, denkendes und engagiertes Volk.

Wer sich die Entwicklung der Wahlbeteiligung ansehe, werde feststellen, dass die Demokratie zu einer immer exklusiveren Veranstaltung der Menschen aus den mittleren und oberen Sozialmilieus werde. Dies könnte auf Dauer die Ungleichheit verstärken. Dabei gelte bereits jetzt (Zitat): "Das Maß an Ungleichheit, das derzeit in der Gesellschaft vorhanden ist, verträgt eine Demokratie auf Dauer nicht." Bildung könne dies ändern. 

Herr Weber beobachtet eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft und verwies mit Blick auf Bremen auf die sinkende Wahlbeteiligung in Stadtteilen, in denen ein hoher Anteil der dort lebenden Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Es seien vor allem sozial schwach gestellte Bürger, die sich immer mehr von der Politik abwenden würden.


Falsche Reaktion auf Warnsignale

Eine niedrige Wahlbeteiligung mit der Tendenz "weiterhin sinkend" ist ein ernsthaftes Warnsignal für die politisch Verantwortlichen aller Parteien. Sie ist ein Hinweis auf gravierende gesellschaftliche Probleme, der im Falle einer zwangsweisen "Wahlbeteiligung von 100 Prozent" verborgen bleiben würde.

Herr Weber hat zwar richtig erkannt, dass ein zunehmendes soziales Ungleichgewicht eines der Probleme darstellt, die sich unter anderem auch in einer sinkenden Wahlbeteiligung äußern. Es fehlt den Parteien jedoch oftmals der politische Wille, die Ursachen, die den Symptomen zugrunde liegen, tatsächlich anzugehen um die daraus resultierenden Probleme zu beheben. Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeiten lassen sich durch Einführung einer Wahlpflicht in Deutschland jedenfalls nicht lösen.

Gäbe es diese Ungerechtigkeiten nicht, dann wäre vielleicht auch die Wahlbeteiligung entsprechend höher. Deshalb ist es höchste Zeit, dass die politisch Verantwortlichen endlich etwas gegen die Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und gegen die sozialen Ungerechtigkeiten in Deutschland zu unternehmen.


Ein verbindliches Angebot?

Herrn Weber zufolge gebietet sich eine Wahlpflicht schon aus Respekt gegenüber den Nichtwählern. Die Politik dürfe sie nicht aufgeben, sondern müsse ihnen ein verbindliches Angebot machen.

Eine Wahlpflicht, mit der die Nichtwähler zur Stimmabgabe gezwungen werden, wäre kein "verbindliches Angebot", sondern eine gesetzlich durchzusetzende Zwangsmaßnahme, die mit "Respekt gegenüber den Nichtwählern" absolut nichts zu tun hätte - und mit Demokratie schon gar nichts: Man kann es zwar immer wieder bedauern, wenn jemand keinen Gebrauch von seinen demokratischen Rechten macht, aber jeder, der es mit der Demokratie ernst meint, sollte die persönliche, freie und somit auch demokratische Enscheidung der Nichtwähler respektieren.

Ich kann es schon nachvollziehen, wenn jemand, der einer Partei aufgrund der in ihrem Wahlprogramm verkündeten politischen Absichten seine Stimme gegeben hat, dieser Partei bei der nächsten Wahl den Rücken kehrt, wenn im Koalitionsvertrag anschließend keine Rede mehr davon ist. In meinem Fall würde das beispielsweise auf die Atom-, Energie- und Klimaschutzpolitik der neuen Großen Koalition in Berlin zutreffen. Welchen Wert hat denn schon ein "Mindestlohn für alle", wenn der Preis dafür die existentielle Gefährdung der Lebensgrundlage aller nachfolgenden Generationen ist?

Hinzu kommt, dass derjenige, der eine Wahlpflicht durchsetzen will, auch sagen muss, wie er mit denjenigen verfahren will, die sich ihrer gesetzlich verordneten Verpflichtung entziehen und trotzdem nicht zur Wahl gehen. "Wahlverweigerung" ließe sich dann aus meiner Sicht nämlich nur mit Geld- oder Haftstrafen sanktionieren. Ich bezweifle, dass solche Zwangsmaßnahmen förderlich für die Demokratie in Deutschland wären.


Respekt gegenüber den Bürgern

Herr Weber täte gut daran, sein Bild vom "Respekt gegenüber den Nichtwählern" durch den "Respekt gegenüber den Bürgern" zu ersetzen! Das gilt im übrigen ebenso für alle anderen Politiker, quer duch alle Parteien. Im Artikel 21 Grundgesetz heißt es: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." Davon, dass sie den Willen des Volkes ihren jeweiligen Parteiinterressen, Koalitionsverpflichtungen, oder gar den Interessen ihnen nahestehender Wirtschaftslobbys unterordnen sollen, ist im Grundgesetz nicht die Rede.

Wer mitreden will, der muss den jeweiligen Sachverhalt richtig beurteilen können, um sich eine Meinung darüber bilden und gut durchdachte Entscheidungen treffen zu können. Dafür braucht er Zugang zu allen relevanten, sachbezogenen Informationen. In der Realität werden wichtige Entscheidungen jedoch sehr oft hinter verschlossenen Türen gefällt. Es mangelt an jeglicher Transparenz und Offenheit, so dass ein Meinungsbildungsprozess unter Einbeziehung und Berücksichtigung möglichst vieler Aspekte oftmals von vornherein ausgeschlossen ist. Politiker, die im Verborgenen mauscheln, nehmen die davon betroffen Menschen nicht ernst: Ihnen fehlt es an Respekt gegenüber den Bürgern.

"Bürgerbeteiligung" findet bestenfalls rudimentär statt und in der Regel nur dann, wenn dafür eine gesetzliche Verpflichtung besteht. Wahre Beteiligung ist jedoch mehr, als das Abnicken bereits vorformulierter Häppchen im letzten Quartal einer Planungsphase. Die Parteien versäumen es, das Wissen und die Erfahrung der Bürger ernsthaft zu berücksichtigen und in die politischen Entscheidungsprozesse einfließen zu lassen. Eine gemeinsame Gestaltung der vielschichtigen Lebensbereiche der Bürger ist somit nur in seltenen Fällen möglich.

"Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." - Wenn Politiker über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden, ohne die Bürger auf dem Weg zum Ziel mitzunehmen, werden sie als arrogant wahrgenommen. Bürger, deren Kritik und Einwände nicht ernst genommen werden, fühlen sich ignoriert. Es ist immer wieder erstaunlich, welcher Aufwand seitens der Parteien in den Wochen vor einer Wahl betrieben wird, um "dem Bürger" näher zu kommen. Solange aber zwischen den Wahlterminen kein Dialog auf Augenhöhe stattfindet, darf man sich über Politikverdrossenheit, Mitgliederschwund, Nachwuchsprobleme, Stammwählerverluste oder sinkende Wahlbeteiligung nicht ernsthaft wundern.


Ach ja ...

Der Herr Weber hatte da noch eine weitere Idee, wie sich die Wahlbeteiligung positiv beeinflussen lassen könnte. Mehr junge Menschen würden sich seiner Meinung nach an Wahlen beteiligen, wenn sie ihre Stimme per Mausklick im Internet abgeben könnten. Dass das bislang immer noch wegen datenschutzrechtlicher Bedenken verhindert werde, sei angesichts der Spionageskandale ausländischer Geheimdienste in Deutschland "absurd" ... - Wie bitte?!

Ich glaube, da hat der Herr Weber wohl etwas falsch verstanden: Gerade die Erkenntnisse über diese umfassenden Spionageaktivitäten sind schließlich das wohl schlagkräftigste Argument gegen eine Stimmabgabe via Internet. Angesichts der inzwischen bekannten Möglichkeiten des Geheimdienstes NSA der USA oder des britischen GCHQ könnte im Falle einer Online-Abstimmung von der im Artikel 38 Grundgesetz garantierten geheimen Wahl de facto wohl keine Rede mehr sein.


(Quellen: Nordsee-Zeitung vom 08.01.2014, Weser-Kurier vom 08.01.2014, Kreiszeitung vom 08.01.2014, Radio Bremen vom 07.01.2014, Gesetze im Internet )

2 Kommentare:

Hermann hat gesagt…

Artikel 21 Grundgesetz:"Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit."

MITwirken, dass bedeutet für mich, dass in erster Linie das Volk wirkt. Die Parteien helfen, wirken mit, stehen zur Seite.
Aber das hat es noch nie gegeben. Ohne Parteizugehörigkeit bekommt man kein Bundestagsmandat, es ist schlicht unmöglich. Also wirkt das Volk wohl eher mit, hilft der Partei bei deren politischer Willensbildung.
Aber das ist nicht nur bei den Parteien so. Versuche mal einer, ohne Gewerkschaftszugehörigkeit einen Platz im Betriebsrat oder im Personalrat zu bekommen. Man kommt gar nicht erst mit auf die Liste. Und eine eigene Liste aufzustellen, dass scheitert an der Trägheit der Kollegen.
Wenn aber alle sagen, Sch.... Betriebsrat, sch... Regierung usw. und nicht zur Wahl gehen, ja dann wird eben nicht gewählt. Dann setzen sich die durch, die ihre Wähler mobilisieren können. Dann hat mit einem Male eine Partei 42 % der abgegebenen Stimmen obwohl das nur einen Bruchteil der Wahlberechtigten ist, regieren diese Leute dann ganz kommod. Und die Nichtwähler schimpfen auf die Regierung und wollen zu jedem Thema eine Volksabstimmung

juwi hat gesagt…

@Anonym":
Um faire Diskussionen zu gewährleisten, veröffentliche ich keine Kommentare ohne "Identität" in Form einer E-Mail-Adresse, einem Namen oder zumindest einem Nicknamen (siehe Hinweis über dem Kommentar-Eingabefeld). Wenn mehrere Leser einen Kommentar als "Anonym" zu einem Kommentar abgeben, und der eine dem andern antworten möchte, dann weiß am Ende niemand, wer da gerade mit wem "spricht". | Deinen Kommentar vom 11.01.2014 um 13:22 Uhr mit der Einleitung "Wenn ich rückblickend betrachte was sich in Bremerhaven getan hat kann ich dem Kommentar zu 100% zustimmen.
Die Parteien versäumen es den Bürger und somit Wählern ihre Politik verständlich zu machen und somit gemeinsam zu gestalten ..." habe ich deshalb nicht veröffentlicht. Ich würde mich freuen, wenn du deinen Kommentar noch einmal, zumindest mit einem Nicknamen (Fantasie-Name) "unterzeichtet", abschicken würdest. Ich hoffe, du hast dafür Verständnis.

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