Dienstag, 20. Juli 2010
Das wilde Moor meiner Kindheit
Weg ins Fehrmoor auf der Leherheider Seite
Am westlichen Stadtrand Bremerhavens gibt es einige Moorgebiete, die allerdings aufgrund der Urbarmachung durch den Menschen, durch den Torfabbau und die damit einhergehende Trockenlegung teilweise kaum noch als solche zu erkennen sind. Interessant zu wissen ist es diesem Zusammenhang vielleicht, dass man auf der Autobahn A27 im Abschnitt zwischen den Abfahrten Bremerhaven Mitte und Bremerhaven Überseehäfen auf einer Brücke, der Moorbrücke, fährt. Diese steht auf Brückenpfeilern, die im Sandboden unter dem Moor gegründet sind. Auch im Süden Bremerhavens gibt es einen auf Pfählen gegründeten Abschnitt der A27.
Der Weg durch das Fehrmoor ...
Das überwiegend von Birken bewachsene Moorgebiet zwischen dem Bremerhavener Stadtteil Leherheide und Spaden war der Spielplatz meiner Kindheit. Zwischen den Birken hatten in der Vergangenheit Landwirte immer wieder mal Bäume für die eine oder andere Wiese gerodet. Als meine Eltern mit uns Kindern von der Hafenstraße in Lehe aus einer Zwei-"Zimmer" Dachmansarde in die geräumige Dreizimmer-Wohnung eines gerade fertiggestellten Neubaus nach Leherheide in den Surhörenweg zogen, gab es dort neben den drei ersten Wohnblocks der Gewoba im Surhörenweg (der heutigen Kurt-Schumacher-Straße) und drei baugleichen Wohnblocks in der Louise-Schröder-Straße nur Wiesen, das Moor, eine Abdeckerei (dort, wo heute das Einkaufszentrum ist) und die Siedlungshäuser der alteingesessenen Leherheider.
... wird von einer großen Vielfalt an Wildblumen gesäumt ...
Einkaufsmöglichkeiten gab es - zumindest in meiner kindlichen Wahrnehmung der damals immer noch ziemlich großen Welt der Erwachsenen - erst "eine Weltreise entfernt" an der Einmündung des Debstedter Wegs in die Langener Landstraße. Ansonsten kam in regelmäßigen Abständen ein zu einem rollenden Lebensmittelladen umgebauter ehemaliger Reisebus vorbei. Wenn wir seine Glocke läuten hörten, schickte mich meine Mutter manchmal mit einem Einkaufszettel und unserer Milchkanne nach unten. Im Bus gab es ein Milchfass mit einer Handpumpe darauf, mit der die fahrenden Lebensmittelhändler die Milchkannen ihrer damals noch am Rande der Zivilisation hausenden Kunden füllten. Die Milchkannen sind inzwischen ausgestorben. Heutzutage einen Liter Milch zu kaufen, ohne dabei den üblichen Beitrag zur Versorgung der heimischen Müllverbrennungsanlage mit Brennmaterial zu leisten, ist schier undenkbar. Mit Zivilisation hat das aus meiner Sicht allerdings auch nichts zu tun ...
... die ihrerseits von einer großen Anzahl an Insekten bevölkert werden
Ich muss damals so ungefähr 6 Jahre alt gewesen sein, als ein älterer Spielkammerad meinte, wir könnten ja einmal ins Moor gehen. Ich, das Leher "Großstadtkind", war augenblicklich fasziniert von der neuen Welt, die sich da vor meinen Augen ausbreitete. Wir Kinder haben aus getrockneten Grasbüscheln und herumliegenden Zweigen und Ästen Heuhütten gebaut, oder Blindschleichen, Kaninchen, Ringelnattern, Schnecken, Eidechsen oder Rehe beobachtet.
Mikrokosmos im Moor: Biene und Spinne auf der Suche nach Nahrung
Neben "Mutter und Kind", vorzugsweise wenn die Mädchen mitspielten, war "Cowboy und Indianer" ein beliebtes Spiel - ihr wisst schon: Das Spiel, bei dem sich die friedliebenden Cowboys immer gegen die fiesen Rothäute zur Wehr setzen müssen, und bei dem die Indianer immer den kürzeren ziehen. Da ich noch nie Interesse daran hatte, anderen zu beweisen, was für ein starker Kerl ich bin, war ich meistens der "Dok", der in der Strohütte, die als Saloon ausgeguckt worden war, die imaginären Pfeile aus den realen Armen und Beinen der "nur so als ob" verwundeten Cowboys herauszog. Wenn der rothäutige Medizinmann, der es allerdings eher mit imaginären Bleikugeln zu tun hatte, und ich einen guten Tag hatten, dann konnte das Spiel ewig dauern. - Mein Interesse an "Cowboy und Indianer" erlosch allerdings ziemlich bald, nachdem ich den ersten Band von Karl May's "Winnetou" Trilogie verschlungen hatte: Mein bis dahin gefestigtes Bild von der fiesen Rothaut bekam Risse und begann sich zu wandeln.
Die Birke mit ihrer weißen Rinde: Ein typischer Baum im Hochmoor
Großen Respekt hatten wir vor der heimlichen Anwesenheit der giftigen Kreuzottern. Wir haben nur selten eine von ihnen zu Gesicht bekommen. Meistens machten sie sich rechtzeitig aus den Staub, wenn wir den weichen Torfboden mit unseren Schritten zum Schwanken brachten. Kreuzottern sind da sehr sensibel und gegenüber dem Menschen äußerst scheu. Dafür musste so mancher Frosch unfreiwillig als unser Spielgefährte herhalten (es ist aber nie einer dabei ernsthaft zu Schaden gekommen). Nachdem meine Schwester und ich "zur Freude unserer Mutter" die Laichballen unserer unfreiwilligen Spielgefährten zu Hause in einem improvisierten Aquaruim gehütet und gepflegt hatten, schwammen kurz darauf süße, winzige Kaulquappen darin herum, die bald darauf zu richtigen kleinen Fröschen mutierten. Angesichts der freundlichen, aber unmissverständlichen Aufforderung unserer Mutter, hieß es dann aber tränenreichen Abschied nehmen von unseren zahlreichen kleinen Lieblingen, die irgendwann begonnen hatten über den Rand des "Aquaruims" zu springen, und sich daran machten die große, weite Welt unserer Wohnung zu entdecken. Im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren, in dem die Kinder heutzutage eher an "Spielkonsole", "Jugenddisko" oder "Shoppen" denken, als an aufregende Abenteuer in der Natur, habe ich noch immer gelegentliche Streifzüge durch das Moor unternommen. Erst in dieser Zeit begannen wir uns so nach und nach auch für andere Freizeitaktivitäten zu intressieren.
Fehrmoor: Moorwiesenlandschaft in der Nähe von Debstedterbüttel
Meine ersten Schritte auf dem Weg zum Naturschützer machte ich übrigens so mit ungefähr 12 Jahren, als Bauarbeiter damit begannen, zur Vorbereitung für den Bau einer Straße, eine Schneise durch "mein Moor" zu schlagen. Ich war deswegen damals ziemlich sauer auf diese Blödmänner, die offensichtlich keinen blassen Schimmer davon hatten, welchen Schaden sie da anrichteten. Selbstgemalte Holzschilder, mit Bindedraht an den Bäumen befestigt, sollten ihnen ins Gewissen reden und sie von ihren üblen Machenschaften abhalten. Allerdings waren diese Bauarbeiter entweder des Lesens nicht mächtig, oder es handelte sich bei ihnen tatsächlich um gewissenlose, skrupellose Strolche ... - Das kurze Stück Straße, das in Verlängerung der Hans-Böckler-Straße zum heutigen Gewerbegebiet an der Fritz-Erler Straße führt war allerdings erst der Anfang vom Ende. Heute durchqueren die Autobahn und der Autobahnzubringer Cherbourger Straße mit der Anschlussstelle Freihäfen "das Wilde Moor meiner Kindheit". Auf dem letzten Rest des Moor-Geländes zwischen der Kurt-Schumacher-Straße und dem Zubringer entstand später ein nett angelegter "Abenteuer-Spielplatz" für die Kinder des Stadtteils Leherheide.
Sandweg am Rande des Fehrmoors bei Debstedterbüttel
Es hat danach aber nicht mehr sehr lange gedauert, bis ich mir darüber klar wurde, dass man schon öffentlichkeitswirksam als Gruppe auftreten muss, wenn man etwas für den Umweltschutz erreichen will. David McTaggert's "Segeltörns zum Moruroa-Atoll", auf dem die Franzosen damals oberirdisch Atombomben testeten, und die ersten Versuche der aus diesen Aktionen hervorgegangenen, damals noch kaum bekannten Umweltschutzgruppe "Greenpeace", Wale vor den Harpunen ihrer Henker zu retten, wurden wenige Jahre später zu meinen Vorbildern. In den Augen der meisten Menschen in meiner Umgebung waren diese Versuche damals mindestens ebenso naiv, wie meine einige Jahre zuvor mit Bindedraht an Bäumen befestigten Holzschilder. Aber die Franzosen haben aufgrund weltweiter Proteste damit aufgehört, auf Moruroa ihre Atombomben zu testen. Und irgendwann wird auch der Kampf um das Überleben der großen Wale endgültig gewonnen sein ...
Durch das Fehrmoor
Zwischen Leherheide & Debstedt: Gesperrte Brücke über die Große Beek ...
Das erste Etappenziel meiner Radtour am letzten Wochenende war das zwischen Leherheide und Debstedt gelegene Fehrmoor. Es war unter anderem durch die in der Lokalpresse bekanntgegebene Vollsperrung der Brücke über die Große Beek in den Blickpunkt meines Interesses gerückt. Seit der Sperrung ist der von Fußgängern und Radfahrern genutzte Weg von Leherheide nach Debstedt blockiert. Ich bin zwar kein Brückenfachmann, aber im Gegensatz zu anderen gesperrten Brücken in Bremerhaven kann ich nicht erkennen, warum diese Brücke für Fußgänger oder Radfahrer eine Gefahr darstellen sollte. Wäre die Gitterkonstruktion der Brücke bei der Alten Luneschleuse in der gleichen Verfassung, wie die fünf stählernen Doppel-T-Träger unter den Planken der Brücke über die Große Beek, dann würde sie meines Erachtens noch einmal 100 Jahre überstehen.
... mit 5 Doppel-T-Trägern: Gefahr für Fußgänger und Radfahrer?
Während ich mir die Brücke ansah, kam aus Richtung Leherheide ein Ehepaar mittleren Alters auf Fahrrädern angefahren. Die beiden hielten vor der Absperrung an, hoben ihre Fahrräder darüber hinweg, überquerten die Brücke, wiederholten die Prozedur mit den Rädern an der gegenüberliegenden Absperrung, und fuhren weiter ihres Weges in Richtung Debstedt. Die Brücke hat dabei übrigens keinen sichtbaren Schaden davongetragen. Wir drei haben kurz über die Vollsperrung der Brücke gesprochen. Die beiden meinten, es sei beschämend, dass die Stadt Millionen für eine gläserne Brücke über den Alten Hafen ausgibt, aber angeblich kein Geld für die Instandsetzung der im Vergleich damit geradezu primitiven Brücke über die Große Beek vorhanden sei.
Brücke Marke Eigenbau über die Große Beek im Fehrmoor
Ich bin dann aber ein paar Meter zurückgefahren, und wie geplant in den Weg durch das Fehrmoor abgebogen. Auch auf diesem Weg gab es früher einmal eine Brücke über die Große Beek, die aber wohl irgendwann einmal abgerissen worden sein muss. Bis auf den asphaltierten Weg, der zu beiden Seiten des Baches quasi im Nirgendwo endet, erinnert nicht mehr sehr viel daran. Irgend jemand hat später aus aufeinandergestapelten Gehwegplatten als Brückenpfeiler und ein paar darauf gelegten Holzplanken eine ziemlich abenteuerliche Brücke Marke Eigenbau gebastelt, die ich mühelos mit meinem Fahrrad überqueren konnte. Allerdings habe ich das Fahrad dabei geschoben. Fahren erschien mir aufgrund der äußerst geringen Breite der Brücke und des scharfen Knicks vor dem anderen Ufer dann doch "etwas" zu gewagt.
Im Fehrmoor: Die Große Beek
Entlang des Weges durch das Moor sind im Laufe vieler Jahre immer mehr Wochenendgrundstücke angelegt worden, Gartenpflanzen und moorfremde Bäume, wie z.B. Nadelbäume, die von den Grundstückseigentümern angepflanzt wurden, haben die für ein Hochmoor eher typischen Birken aber noch nicht ganz verdrängen können. Einige der Wochenendgrundstücke wurden offensichtlich irgendwann aufgegeben und werden jetzt von der Natur zurückerobert. Der Wegrand wird von einer großen Vielfalt an Wildblumen gesäumt, die wiederum von einer mindestens ebenso großen Anzahl an Insekten bevölkert werden. Auch wenn die wilde Blütenpracht nicht zu übersehen ist, entdeckt man diesen Mikrokosmos jedoch nicht im Vorüberfahren. Dazu muss man schon einmal anhalten und die Umgebung auf sich und seine Sinne wirken lassen. Vom Weg aus betrachtet sieht es im Fehrmoor zwar nicht im geringsten so aus, wie in der Wildnis meiner Jugend, aber die typische Mischung sommerlicher Düfte aus Torf, feuchtwarmen Gräsern, Kräutern und vermoderndernden Pflanzenresten, die summenden und zirpenden Geräusche der Insekten, der Gesang der Vögel und der Anblick in der Sonne tanzender Schmetterlinge weckten doch wieder die Erinnerungen an meine Kindheit im Moor.
Verwilderte Einfahrt zu einem ehemaligen Wochenendgrundstück
Am Ende des Weges durch das Fehrmoor findet man sich auf der Debstedter Seite dann plötzlich auf dem Sandboden der Ausläufer der Hohen Lieth wieder. Die "Hohe Lieth" ist die Seitenmoräne eines Gletschers aus der Eiszeit, die sich östlich der Weser in Richtung Norden bis nach Cuxhaven hinzieht. Auch der größte Teil des "alten" Leherheide liegt auf Ausläufern der Hohen Lieth. Mit ca. 11 Metern über n.N. liegt dort auf dieser eiszeitlichen Hinterlassenschaft auch die höchste Erhebung Bremerhavens.
(Quelle: Wikipedia)
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3 Kommentare:
Grüß Dich Juwi!
Sehr schöne Landschaft und ein lehrreicher Bericht. Moore gibt es bei uns in der Gegend auch noch, na ja, trocken gelegt sind sie und man nennt sie hier Mört...
Servus und so long
Kvelli
Guten Tag Juwi
Das sind interessante Erinnerungen aus Deiner Kindheit und Jugend. Die Geschichte des Moors zeigt wie sich alles verändert, durch Menschenhand zwar, doch die Natur erobert sich immer mal wieder etwas Raum zurück.
Prachtvolle Bilder der Wildblumen und der Gegend, das muss eine zauberhafte Stimmung sein dort.
Ich wünsche Dir einen schönen Sommer, mein Blog geht definitiv in eine Sommerpause
Herzliche Grüsse
Elfe
das war ein interessanter streifzug durch den für mich unbekannten teil bremerhavens und durch deine und meine kindheit.
lieber jürgen,
diese erinnerungen sind mitunter schmerzhaft, vieles ist nicht mehr da, zerstört, ob nun mutwillig oder unbedacht...
unser schulgarten, kaum jemand erinnert sich noch daran, eine miniökologische ecke in ohlenstedt ist ackerland geworden.
die anfänge des widerstandes (auf manchen kundgebungen haben wir uns gewiss getroffen) mit deinen protestholzschildchen haben und werden weiterhin früchte zeigen.
diesen beitrag (vielleicht aus der momentanen stimmung heraus) hab ich richtig gern gelesen!
*ggg* das gefühl, es gibt noch andere nützliche idioten!
lg kelly
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