Samstag, 24. November 2012

Dosenspalier

Keine Wirkung auf die Lebenden? Kriegsgräber in Bremerhaven (Friedhof Lehe-III)
Es ist der Tag vor dem Totensonntag. Ich bin auf dem Weg zum Friedhofseingang, um das Herbstlaub und die gelben Nadeln der Lärchen, die der Herbst auf dem Familiengrab hinterlassen hat, durch winterlichen Grabschmuck zu ersetzen. Bevor ich damit beginnen kann, muss ich allerdings zuerst an den dosenschwenkenden Spendensammlerinnen vorbei: Links, die eine Dose standhaft ignorierend, drängt sich von rechts die andere Dose gnadenlos in mein Blickfeld: "Guten Morgen."

Höflich, wie ich nun einmal bin, grüße ich zurück und durchbreche - diesen kurzen Augenblick der Unaufmerksamkeit der Spendensammlerinnen nutzend - das klimpernde Spalier. Vorbei: Geschafft! Bald sind die klimpernden Geräusche der Dosen hinter mir verklungen ...

Ich sehe keinen Sinn darin, für die Pflege der Gräber der Toten zweier Weltkriege zu spenden, wenn der Anblick der vielen Kreuze auf den Gräberfeldern die Lebenden nicht davon abhalten kann, erneut zu den Waffen zu greifen. Es käme mir vor, als würde ich für die Gräber der Soldaten spenden, die heute in Särgen aus Afghanistan zu ihren Familien und Freunden nach Deutschland zurückkehren - oder für diejenigen, die möglicherweise morgen im türkisch/syrischen Grenzgebiet ums Leben kommen werden.

Besser wäre es, wenn es ein fester Programmpunkt im Unterricht von Schulen und Kirchen wäre, Jugendfreizeiten in der Nähe der Massengräber zu organisieren, um den Jugendlichen während der gemeinsamen Pflege der Gräber bewusst zu machen, auf welche Weise die Menschen gegeneinander aufgehetzt wurden und was die Toten auf beiden Seiten der Fronten erleiden musten, bevor sie - kaum erwachsen - in jungen Jahren auf grausame Weise aus dem Leben gerissen wurden. Daran hat sich seit 1945 leider nichts Wesentliches geändert.

Die Kriegsherren haben ihre Verführungs- und Führungsmethoden weiter perfektioniert und junge Menschen folgen weiterhin bereitwillig ihren Befehlen. Sie töten und werden getötet. Die physischen Verwundungen und Verstümmelungen der Überlebenden lassen sich nicht ignorieren. An den unsichtbaren Verletzungen ihrer Seelen leiden sie ihr Leben lang, ohne dass die Öffentlichkeit davon etwas erfährt. "Über so etwas spricht man nicht." Das ist Tabu.

Unter dem direkten Eindruck des Anblicks der Totenäcker und im Zusammenhang mit der physischen Beschäftigung mit den Auswirkungen der Kriege zu Beginn des letzten Jahrhunderts dürfte wohl kaum jemand in der Lage sein, die schrecklichen Ereignisse zu verdrängen. Zumindest bestünde so die Chance für einen nachhaltigen Bewustseinswandel in unserer Gesellschaft.

Sollte der Einsatz militärischer Mittel irgendwann einmal kein Thema mehr im Bundestag sein, dann wäre ich auch bereit, für den Erhalt und die Pflege der Kriegsgräber zu spenden, um sie für zukünftige Generationen als Mahnmale gegen den Krieg zu erhalten. Bis dahin aber halte ich es für sinnvoller, die Lebenden zu unterstützen, die auf unsere Spenden angewiesen sind.


Update: 25.11.2012, Beispiele bei Weltkriegsopfer.de

(Quelle: Weltkriegsopfer.de)

1 Kommentar:

kelly hat gesagt…

moin jürgen,
in brhv. wird (oder wurde) sogar busweise in uniform gesammelt, vorher wurden die dosenhalter vom vorgesetzten instruiert: werft schon mal ne münze rein damit es klingt...
meine gedankliche verbindung war klar und leider verziehe ich unwillkürlich bei ähnlichen sammelaktionen und uniformen das gesicht.
beim umzug kam eine kleine mappe, brhv. zeichnet für den frieden, wieder zum vorschein von hugo s. aus den zeiten des widerstandes (anno83).
sei herzlich gegrüsst von kelly

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