Sonntag, 26. April 2015

Strahlende Wildschweine


Anfang bis Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts verbreitete die Atomindustrie die Information, die Atomkraftwerke seien so sicher, daß es - statistisch betrachtet - zu weniger als einem Super-GAU in zehntausend Jahren kommen würde.

Warum also hätte Otto Normalverbraucher sich Gedanken um die Sicherheit des Atomkraftwerks in seiner Nachbarschaft machen sollen? Schließlich würde es in zehntausend Jahren wohl kaum noch in Betrieb sein.

Die Sache mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung hatte nur einen Haken: Die beruhigende Aussage der Atomindustrie bedeutete nicht, dass - wie Otto Normalverbraucher vorschnell angenommen hatte - erst in zehntausend Jahren mit einem Super-GAU zu rechnen sein würde. Und: Niemand hatte Otto wirklich gesagt, dass die Atomkatastrophe bereits im ersten Jahr des zehntausend Jahre umfassenden Zeitraums eintreten könnte.

Und dann expoldierte der Atomreaktor des Blocks 4 der damals noch sowjetischen Atomkraftanlage "Tschernobyl" ... - und für Otto Normalverbraucher brach das Weltbild eines goldenen Atomzeitalters in sich zusammen. Wie hatte das nur passieren können? Die zehntausend Jahre waren doch noch längst nicht vorüber!

Es gab da noch einen weiteren Punkt, den die Atomindustrie bei ihrer Beruhigungskampagne erfolgreich verschwiegen hatte. Wenn auch die Wahrscheinlichkeit eines Super-GAUs pro Atomkraftwerk geringer ist als 1 pro 10000 Jahre ist, dann erhöht sich doch das Risiko, dass es bereits früher zur Atomkatastrophe kommen könnte, mit jedem weiteren Atommeiler, der in Betrieb genommen wird. Bei derzeit 439 Atomreaktoren weltweit kommt man bei einer gleichmäßigen Verteilung auf einen Super-GAU pro 22,8 Jahre.

Wenn es um die Gefahr eines atomaren Super-GAUs und dessen Folgen geht, können mich diese auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen beruhenden Statistiken nicht wirklich beruhigen. Der zweite Super-Gau in der kurzen Geschichte des Atomzeitalters (Fukushima-I) passt da nämlich recht gut ins Bild und die Möglichkeit, dass ich es noch erleben könnte, dass uns der nächste Meiler wohlmöglich in Deutschland, in Frankreich oder vielleicht in Tschechien um die Ohren fliegen könnte, finde ich eher besorgniserregend.

Meiner Generation und den Generationen meiner Eltern und Großeltern hat man vielleicht noch weismachen können, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es innerhalb von zehntausend Jahren zu nicht einmal einem Super-GAU in einem Atomkraftwerk kommen könnte, sei so verschwindend gering ist, dass es sich nicht lohnt, überhaupt darüber nachzudenken.

Danny Cooke, der Autor des Videos oben in meinem Artikel, wurde 1985, dem Jahr vor der Atomkatastrophe geboren (Hinweis: Sollte die Wiedergabe "haken", bitte unten in der Wiedergabeleiste des Videos auf "HD" klicken, um das Video in einer geringeren Auflösung abzuspielen). Seine und alle folgenden Generation wissen um die Gefahren der Atomindustie und deren mögliche Folgen. Und spätestens seit der Atomkatastrophe in der japanischen Atomkraftanlage "Fukushima-I" (Dai-ichi) wird nach dem dritten Super-GAU niemand mehr behaupten können, er habe nicht gewusst, dass "so etwas" möglich wäre. Das gilt insbesondere für die Politiker, die dafür sorgen, dass hierzulande immer noch Atomkraftwerke in Betrieb sind und in benachbartem Ländern sogar der Bau neuer Atomkraftwerke möglich wird (Großbritanien, "Hinkley Point C"!).


Ein teures Provisorium

Heute jährt sich der Beginn des Super-GAUs in der mittlerweile ukrainischen Atomkraftanlage zum 29. Mal. Der provisorische Beton-"Sarkophag", dessen Bau viele Menschen ihre Gesundheit und das Leben kostete, sollte ein weiteres Ausdringen von Radioaktivität aus der Atomruine verhindern. Seit mehr als zehn Jahren ist er jedoch völlig marode und droht in zehn bis fünfzehn Jahren einzustürzen. Abhilfe soll eine darübergestülpte Schutzhülle - das "New Safe Containment" - schaffen, die eigentlich bereits 2011 hätte fertig sein müssen, deren Bau und Fertigstellung sich jedoch immer weiter verzögert.

Die zu erwartenden Kosten sind in der Zwischenzeit explodiert. Finanzielle Zusagen der internationalen Staatengemeinschaft sind erst teilweise eingelöst worden. Der "Rest"steht noch aus. Darüberhinaus bindet der Bürgerkrieg in der Ukraine nationale Mittel für die Gefahrenabwehr in "Tschernobyl". Nur die Bereitstellung von zusätzlichen 350 Millionen Euro durch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (European Bank for Reconstruction and Development - EBRD) verhinderte Ende des letzten Jahres einen drohenden Abbruch der Bauarbeiten.

Auch das auf eine Lebensdauer von einhundert Jahren ausgelegte "New Safe Containmant" ist wieder nur ein teures Provisorium. Derzeit geht die EBRD von Gesamtkosten für das Bauprojekt in Höhe von rund 2,15 Milliarden Euro aus. Woher die Mittel für den Rückbau des havarierten Atomreaktors und die Bergung des darin eingeschlossenen hochradioaktiven Materials kommen sollen, ist bisher unklar. Wenn es keine weiteren Zusagen für finanzielle Mittel geben sollte, würde die Ukraine mit der Übergabe der fertigen Stahlkonstruktion allein dastehen. Auch für die notwendige sichere Zwischenlagerung des hochradioaktiven Materials aus dem geplanten Rückbau des Reaktorblocks 4 gibt es bisher keine Lösung.

All das zeigt, dass die Staatengemeinschaft bereits mit den Folgen des ersten Super-GAUs des Atomzeitalters überfordert ist. Knapp 25 jahre später folgte der Zweite. Den Folgen eines jederzeit möglichen dritten Super-GAUs - insbesondere in einem dichtbesiedelten Industrieland wie Deutschland, Frankreich oder England - würde sie hilflos gegenüberstehen.


Strahlende Wildschweine

Die Auswirkungen des Super-GAUs sind auch nach 29 Jahren noch weit über die zur Sperrzone erklärte Region um Tschernobyl und die benachbarte Geisterstadt Prypjat hinaus spürbar. So sind beispielsweise immer noch viele erlegte Wildschweine in Bayern radioaktiv belastet. Der zulässige Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm wird auch heute noch teilweise deutlich um mehr als das Zehnfache überschritten.

Mit der Nahrung nehmen die Tiere die im Boden gebundenen radioaktiven Rückstände des radioaktiven Fallouts aus dem Frühjahr 1986 in ihre Körper auf. Würden Menschen das Fleisch der Wildschweine essen, dann würden sich die beim Super-GAU im Jahre 1986 freigesetzten Radionukleide in ihren Körpern anreichern. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie an Krebs erkranken, würde dadurch zunehmen.


Der Super-GAU dauert bis heute an

"Tschernobyl" ist noch längst nicht vorbei. Dafür sorgen unter anderem auch Waldbrände in der Ukraine, bei denen die im Boden und im Laub der Bäume fixierten radioaktiven Stoffe freigesetzt und mit dem Wind bis Europa getragen werden.

Allein der Anteil an radioaktivem Cäsium in den oberen Bodenschichten und in altem Laub des heute größtenteils bewaldeten Gebiets rund um den havarierten Atomreaktor beträgt einem Artikel des Wissenschaftsmagazins "scinexx.de" zufolge schätzungsweise immer noch zwei bis acht Petabecquerel (1 Petabecquerel [PBq] = 1 000 000 000 000 000 Becquerel [Bq] ). Darin heißt es, infolge der zunehmend häufigeren Hitzewellen käme es auch in der Region um Tschernobyl vermehrt zu Waldbränden.

Anhand von Bränden in den Jahren 2002, 2008 und 2010 hätten Forscher achgewiesen, dass dabei tatsächlich radioaktives Cäsium aus der Sperrzone freigesetzt und die Radionuklide mit dem Wind bis nach Italien und Skandinavien, aber auch in der Türkei verteilt wurden. Insgesamt entspäche die freigesetzte Menge von Cäsium-137 etwa acht Prozent des Fallouts unmittelbar nach der Explosion des Atomreaktors. Auf den ersten Blick sei das zwar nicht viel, aber bei den drei Bränden seien auch nur rund zehn Prozent der Sperrzone betroffen gewesen.


(Quellen: Spiegel vom 22.04.2015, N24 vom 20.04.2015, Bayrischer Rundfunk vom 17.04.2015, GRS vom 17.04.2015, Deutschlandfunk vom 21.03.2015, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.03.2015, scinexx.de vom 12.02.2015, Klimaretter.info vom 06.01.2015, EBRD vom 02.12.2014 [engl.], Handelsblatt vom 27.11.2014, Wikipedia )

1 Kommentar:

Grey Owl Calluna hat gesagt…

Dagegen können wir nichts mehr tun.....und die Konzerne entscheiden, was und wo für die Energiegewinnung gebaut wird......

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